An alle, die die Tür nicht sehen

Ich weiß, dass Bekannte in meinem Freundeskreis sich mit dem Thema Körpergefühl und Essverhalten schwer tun. Ich erkenne die Anzeichen sofort, sie stechen mir förmlich ins Auge. Doch nicht nur sie leiden darunter.

Seit ich mir meine „Sache“ eingestanden habe, nehme ich die Umwelt auf eine andere Weise wahr. Es ist so, als ob mir zum ersten Mal eine Tür im Raum auffällt, die ich vorher nie gesehen habe. Und zu meinem Erschrecken sitzen unzählige Menschen mit mir im selben Zimmer. Aber da niemand die Tür sieht, kann auch niemand dem Raum entkommen.

Doch nach vielen qualvollen Jahren sehe ich die Tür nun deutlich vor mir und habe endlich Zutritt nach draußen. Ich laufe an all den vielen Frauen und Männern vorbei, die weiterhin gefangen sind und kann nicht aufhören sie anzustarren. Es überrascht mich, wie viele es sind. Und es überrascht mir noch mehr, wo sie mir über den Weg laufen.

Ich muss dafür gar nicht weit gehen. Ich klopfe an die Tür meiner Nachbarin, die verzweifelt über ihr Gewicht klagt und nun krampfhaft eine „Gemüsediät“ erzwingt. Sie hat über den Sommer etwas zugelegt und kann mit den extra Pfunden unmöglich leben. Sie beschäftigt sich unentwegt mit ihrem Aussehen, ihrem Essverhalten und ihrem Gewicht. Und dann wird mir plötzlich klar, dass wir beide im selben Raum gefangen sind. Doch anders als ich weiß sie es noch nicht.

Ebenso ist es mit einem guten Freund. Er ist Bodybuilder, besucht täglich das Fitnesscenter und nimmt nichts anderes als Reis mit Hähnchen zu sich. Snacks bestehen aus Proteinriegeln oder rohen Eiern. Jede Form von „Cheaten“ kann er nicht genießen, denn er fühlt sich anschließend furchtbar und kompensiert seine Enttäuschung mit einer doppelten Sportlektion. Auch wenn viele das anders sehen könnten, finde ich, dass auch er kein gesundes Verständnis für seinen Körper und das resultierende Essverhalten hat.

Aber der Höhepunkt meiner Beobachtung spielte sich neulich bei DM ab. Ich war bei der Teeabteilung und hinter mir zwei junge Mädchen, die sich vor Proteinshakes beugten. Sie waren nicht älter als zehn oder elf und führten ein angeregtes Gespräch.

Ich will einfach etwas, das den Stoffwechsel ankurbelt.“

Das was du in der Hand hast, hat aber mega viele Kohlenhydrate.“

Es geht aber auch um die Nährstoffe. Und dafür hat es wenig Fett.“

Mein Mund stand weit offen. Es waren Kinder! Im Anfang ihrer Pubertät. Wenn ich daran denke, dass meine Mutter mir mit elf noch meine Kleider gekauft hat, frage ich mich, ob es in der heutigen Generation wirklich darum geht, das eine Produkt zu finden, dass den Stoffwechsel ankurbelt? Und das  bei zwei jungen Mädchen.

Ihre Sätze bestanden aus diesen stereotypischen Meinungen, die zum Teil stimmen, aber auch sehr einseitig sind. Produkte mit Anregung zum Stoffwechsel bezwecken nicht automatisch eine Gewichtsreduktion. Und eine „low-carbe“ Ernährnung genauso wenig.

Ich kannte sie nicht, aber es brach mir das Herz. Wie gerne hätte ich ihnen gesagt, dass sie lieber jetzt aufhören sollten. Doch ich tat es nicht.

Ich gebe zu, dass das eine sehr provokante These von mir ist, wenn ich behaupte, die Personen aller drei Beispiele hätten ein kompliziertes Essverhalten. Aber wo beginnt eine Essstörung? Ab einem bestimmten Gewicht? Oder sobald man erbricht?

Für mich bedeutet eine Essstörung ein ungesundes Verhalten zu dem Körper und zum Essen und der zwanghafte Drang, die „Sache“ zu verändern/verbessern. Sie bedeutet außerdem auch, dass viel Ballast unter der Oberfläche schlummert. Denn warum brauchen wir diese Kontrolle über das Aussehen? Was gibt es uns, dass wir so besessen darauf sind, dünn oder muskulös zu bleiben?

Aber bevor jetzt Missverständnisse aufkommen: Diejenigen, die sich nach einem großen Stück Schokokuchen schlecht fühlen, schließe ich in dieser Annahme aber aus. Solange das Zu- oder Abnehmen kein Zwang ist, würde ich nicht von einem ungesunden Verständnis sprechen.

Doch was tue ich jetzt, während ich die Menschen um mich herum beobachte, die die Tür einfach nicht sehen?

Ich versuche aus der Tür zu treten und einige Menschen, die mit mir im selben Raum sind, auf eine Tür hinzuweisen. Ganz, ganz vorsichtig. Ohne die Tür einzurennen. Ohne Unterstellungen. Vielleicht gelingt es mir ja, einige nach draußen zu bewegen. ♥

Ich hoffe, dieser Beitrag war für einige nicht zu „angreifend“. Meine Meinung ist lediglich meine Meinung und dieser muss natürlich niemand zustimmen. Zustimmungen oder Gegenkommentare sind natürlich immer erwünscht.:)

 

 

 

Titelbild gefunden auf http://www.pexels.com

 

26 Kommentare zu „An alle, die die Tür nicht sehen

  1. Schön geschrieben. Ich musste grade beim Lesen richtig aufatmen. Derzeit wiegen wir einfach zu viel und kriegen unsere Essattacken auch nicht unter Kontrolle. Als wir von dir und deiner Nachbarin gelesen haben, fanden wir es grade so erleichternd zu spüren, dass es Menschen gibt, die übergewichtige nicht dafür verurteilen, sondern mit dem Herzen sehen.

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    1. Vielen Dank! Nein, auf keinen Fall darf man sie verurteilen – im Gegenteil! Man muss ihnen helfen. Ich hoffe, dass diese wertenden Meinungen über Essattacken und Übergewichtige genauso verschwinden, wie das sogenannte „Schönheitsideal“
      Alles Gute und viel Kraft!

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  2. Irgendwie passt das mit dem Raum und den nicht sichtbaren Türen doch bei fast jeder psychischen Erkrankung, sei es Depression, Ängste, oder Zwänge. Bei mir ist das auch so. Aber ich kann den anderen im Raum genau sagen wo die Tür ist. LG

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      1. Es ist nicht so schwer, denke ich. Ob es für den anderen langfristig etwas positives bewirkt, weiß ich ja auch nicht. Aber das Hauptproblem ist, wenn man allen die Tür gezeigt hat und sie durchgegangen sind, ist man alleine im Raum und wenn die Tür wieder unsichtbar wird, war’s das. LG

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  3. Mir gefällt Dein Eintrag. Für mich ganz persönlich hat er mich sehr, sehr nachdenklich gemacht.

    Ich danke Dir sehr, liebe Mia!

    Von Herzen leibe Grüße und zwei hoffentlich frei und erholsame Tage wünsche ich Dir!

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    1. Vielen, lieben Dank, lieber sternfluesterer, mich hat er auch eine ganze Weile nachdenklich gemacht. Ich habe ihn vor Wochen geschrieben und fühlte mich heute bereit, ihn mit euch zu teilen. Ich hoffe, dass dein Nachdenken dich nicht auf irgendeine Weise negativ stimmt!
      Viele liebe Grüße und schönen Abend wünsche ich dir!

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      1. Mein Denken gleicht in diesen Wochen dem Lauf in einem Hamsterrad, und das ist nicht sehr positiv.

        Dein Eintrag hat mich aber immerhin auf eine neue Richtung aufmerksam gemacht, ist mir also Inspiration. Werde es, wenn meine Depri anhält (und die jetzige Phase ist schon so eine lange) schwer haben, dass mal wirklich auszuprobieren, aber ich werde es nicht mehr vergessen. Und das schon ist nicht unwichtig.

        Du bist ganz unglaublich. Wie freundlich und wohl irgendwie „seherisch“ Du Deine Hoffnung für mich formuliert hast … – Du bist ein sehr lieber, wunderbarer Mensch.

        Immer wieder Dankeschön! – Ganz doll liebe Grüße an Dich!

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      2. Das tut mir sehr leid! Ich wünschte, ich könnte etwas positives sagen, um dich aus dem Hamsterrad zu befreien, aber oftmals sind unsere Emotionen so intensiv und beherrschend, dass man ihnen kaum entkommen kann. Mir hilft immer, vor Augen zu führen, was mir in meinem Leben gut tut, um mich dann darauf zu konzentrieren und meine Kraft daraus zu schöpfen!

        Danke für deine liebevollen Worte. Fühle dich so fest gedrückt, dass all die böse Energie verschwindet!

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  4. Mich hat der Beitrag auch sehr nachdenklich gemacht. Es gibt tatsächlich gefühlt immer mehr Menschen, die Probleme mit ihrem Körper und ihrem Gewicht haben. Der allgegenwärtige Fitnesswahn artet meiner Meinung nach oft in Essstörungen aus, Diäten sind oft ebenfalls ein Einstieg genau wie das Kaufen von irgendwelchen Produkten für den Stoffwechsel. Es gibt viele Wege in ein gestörtes Essverhalten und ich finde es toll dass du die Augen aufhälst 🙂 vielleicht kann man dem ein oder anderen noch helfen bevor es “zu spät“ ist

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  5. Liebe Mia, du beschreibst eine Situation im dm, die ich bereits sehr häufig mitbekam. Meiner Meinung nach, dürften diese Produkte nicht an Kinder und Jugendliche unter 18 Jahre verkauft werden.
    Warum definieren sich so viele (auch immer mehr Kinder) über ihren Körper? Ist es nicht viel attraktiver, mit sich im Reinen zu sein? Was nützt einem ein schlanker Körper, wenn man auf alles lebensqualitätserhöhende verzichten muss? Die Industrie und die Medien und die unterschiedlichsten Ernährungsstile züchten eine kranke und unzufriedene Generation heran. Traurig…
    Danke für deinen tollen Artikel. 💪
    Schönes WE
    Michaela 😃

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    1. Liebe Michaela,
      Ich habe mich auch schon häufig gefragt, warum der ganze Schönheitswahn auf eine so junge Generation trifft. Aber das ganze ist vermutlich so komplex, dass man ihnen im Alltag kaum entkommen kann, wenn man sich nicht instinktiv dagegen wehrt.

      Danke für dein liebes Kompliment! Ich habe dein Buch übrigens in meinem Bekanntenkreis seeehr empfohlen! 😊

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      1. Das ist ganz lieb von dir, Mia. Meine Antworten zu deiner Nominierung erscheint am kommenden Montag. Ich habe heute alles geschafft. 🙂
        Ich denke, im ganzen Ernähungswahnsinn muss/müsste die Politik viel mehr eingreifen. Bei Zigaretten, Alkohol und Filmen funktioniert es doch auch. Wo ein Wille, da ein Weg. Aber leider spielen in der Industrie-Lobby die enormen Gewinne eine viel zu wichtige Rolle. Zu Lasten unserer Kinder.

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      2. Das stimmt. Aber über dieses Thema könnte ich einen ganzen Duden schreiben, so viel fällt mir dazu ein. Politik und Wirtschaft wird schließlich auch von Konzernen beeinflusst und diese Konzerne sind so unglaublich groß und beeinflussend…Aber trotzdem ist es nicht unmöglich, aus der Tür zu treten!

        Super, ich bin schon sehr gespannt auf deine Antworten! Hab ein schönes Wochenende!

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  6. Das gestörte Gefühl zum eigenen Körper, kommt meiner Meinung nach aus der frühen Kindheit. Lesetipps von mir: Jean Liedloff ~ Auf der Suche nach dem verlorenen Glück…gegen die Zerstörung unserer Glücksfähigkeit in der frühen Kindheit und Alice Miller ~ Die Revolte des Körpers (aber vorsicht, da geht es ans Eingemachte)

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      1. Was (uns) dem kleinen Kind, in der frühen Kindheit angetan würde, all die verdrängten Gefühle die wir nicht fühlen durften um zu „überleben“, die uns, bis wir sie befreit haben, beherrschen (unbewusst)

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  7. Sehr einfühlsam geschrieben und überhaupt nicht angreifend (also finde ich)!
    Kann man auch gut auf Depression, Burnout usw. übertragen. Man kann immer bestenfalls auf Türen hinweisen, sehen und durchgehen muss jeder selber, und zwar durch die für ihn richtige Tür – ich denke das wissen und kennen wir irgendwie alle. ;-/

    Viele Grüße!

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    1. Danke! Bei diesem Thema muss man nur immer vorsichtig sein, denn als ich es damals nicht wusste, habe ich alles in den falschen Hals bekommen…Uns selbstversändlich kann man es auf verschiedene Krankheiten projizieren.

      Viele Grüße zurück!!

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