Der Tag nach dem Übergeben

Ich wache auf, doch meine Augen sind geschlossen. Es kostet mich alle Energie sie zu öffnen. Mein Körper ist wie gelähmt, mein Hals ist trocken.

Ich denke an den vergangenen Abend und schüttele den Kopf, um die Erinnerung schnell wieder loszuwerden.

Wasser.

Mein Körper braucht Wasser. Beben meinem Bett steht eine Flasche, doch ich fühle mich zu schwach, um sie vom Boden aufzuheben. Nach 10 Minuten erhebe ich mich mit einem Ruck und merke, wie mir schwindelig wird. Ich spüre mit jeder Faser meines Körpers, wie müde und energielos er ist.

Nach dem Schluck Wasser geht es mir besser. Mein Magen ist leer, aber ich habe noch immer Bauchschmerzen. Entweder streikt mein Bauch vom vielen Gek*, oder er ist mittlerweile so verletzt, dass er gar nichts mehr verträgt.

Ich überlege, ob ich Medikamente gegen das Leid nehmen kann. Vielleicht Iberogast, um den Magen zu beruhigen? Oder Ibuprofen? Ich verwerfe diesen Gedanken wieder, denn meine Schmerzen docken an meine Seele und Schmerzmittel können diese auch nicht lindern.

Als ich ins Bad gehe und in den Spiegel schaue, muss ich das Gesicht verziehen. Meine Haut ist so unrein, wie zur Zeiten meiner Pubertät. Meine Augen sind eingefallen, als wäre ich 10 Jahre älter. Sie sind noch rot. Ich nehme keine Drogen, aber so wie ich aussehe, könnte man meinen, ich nehme welche.

Alles ist anstrengend. Das Duschen, das Anziehen, das Schminken. Ich gebe mir heute keine Mühe, denn an meinem Aussehen ist ohnehin nichts zu retten.

Nie wieder, sage ich mir.

Aber dann werfe ich einen Blick auf meinen Lernstapel und kriege Angst. Heute geht es wieder los. Den ganzen Tag lernen, und dazwischen zur Arbeit rennen.

Wo ist mein Ventil?

Ganz klar ist, dass dieser Stress mir zu viel ist. Und obwohl ich mir viel Ruhe gegeben habe und meine Aktivitäten eingestellt habe, so ist der Stress größer.

Also esse ich, weil es gut tut. Und obwohl mein Magen schon so wund ist und nach zwei Bissen schmerzt, so will ich nicht aufhören. Ich brauche ein schönes Gefühl. Irgendwas, das mich aufheitert.

Aber wie immer eskaliert es. Und obwohl ich wütend darüber bin, so fühle ich mich danach ein wenig befreit. Dieser Moment ist so friedlich und still. Und dann trifft es auf das Schamgefühl und wird durch Selbsthass ersetzt.

Diesen Beitrag habe ich vor 2 etwa Wochen geschrieben, als mein Stresslevel so hoch war, dass mein ungesundes Essverhalten in einer proportionalen Achse mit dem Stress verlief. Nach sehr langer Zeit hatte ich wieder einen Rückschlag, über mehrere Tage andauerte.

Inmitten dieses Momentes hielt ich jedoch all meine Gedanken fest und schrieb vor allem meine körperlichen Symptome auf.

Ich weiß nicht, wie oft es noch passieren wird, dass ich mir immer wieder sage „Das war das letzte Mal“. Und noch mehr hoffe ich darauf, dass dieser Tag eines Tages auftritt..

Binge-Eating und das Übergeben ist so belastend für den Körper und die Psyche. Es schränkt die Gesundheit und das soziale Leben ein.

Und obwohl ich es weiß, so überrascht es mich immer wieder aufs neue, wie tief ich noch in dieser Krankheit sitze.

Ich bin müde. Aber der Kampfgeist ist noch da. Immer nach vorne schauen, niemals zurück! Das war nur ein kleiner Rückschlag.

 

21 Kommentare zu „Der Tag nach dem Übergeben

  1. Liebe Mia,
    du bist ein so toller Mensch. Ich bewundere deine Stärke. Die besagte Müdigkeit spüre ich auch gerade, aber nicht im Kampf meiner ES. Das Wissen, dass sich der tägliche Widerstand lohnt, nimmt jegliche Energie – bringt aber zeitgleich eine Portion Motivation.
    Deine sensiblen Gedanken sind ein wahrer Schatz. Danke, dass du diesen mit uns Leser*innen teilst.
    Fühl dich aus der Ferne umarmt.
    Liebe Grüße
    Michaela

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  2. Wow, das ist wirklich ein sehr mutiger Beitrag, der mir wirklich nahegeht! Ich kann es so gut nachvollziehen, wie du dich fühlst. Und finde es toll, wie optimistisch du bleibst, wie positiv du in die Zukunft blickst und dich nicht unterkriegen lässt. Das finde ich echt bewundernswert! Liebe Grüße und Danke für diesen ehrlichen Beitrag.

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    1. Danke dir für deine lieben Worte!
      Ich vergesse oft, wie es mir im Nachhinein geht, aber diesen Zustand konnte ich inmitten des Moments gut einfangen!
      Optimistisch zu bleiben, ist zwar unglaublich hart, aber auch wichtig, um durchzuhalten!
      Ganz liebe Grüße!!

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  3. Mia, ich finde es richtig stark, wie offen und auch mit Dir selbst schonungslos Du das alles beschreibst.
    Auch Kämpfer sind mal ein wenig müde – aber nur, um neue Kraft zu tanken. Und ich traue Dir genug Energie und Willen zu, um weiterzukommen!

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  4. Es macht mich unendlich traurig das zu lesen! Erstens, weil ich nicht möchte, dass du dich so fühlst, liebe Mia und sich niemand so fühlen sollte und zweitens, weil ich diesen Zustand selbst so gut kenne. Auch wenn ich mich nie (freiwillig) übergebe, so kenne ich diesen Anblick eines unreinen fahlen Gesichts und Bauchschmerzen, die man ignoriert, weil man schon wieder das nächste Essen in sich reinstopft. Aber danke, dass du diese Worte aufgeschrieben hast, denn sie sind hart aber ehrlich!
    Alles Liebe, Julia

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  5. Liebe Mia,

    dieser Text macht viel mit mir. Er macht mich stolz für Dich, für Deine Courage, Dich Deiner schweren Zeit hier öffentlich so zu stellen, wie Du das tust. Er macht, dass ich im ureigensten und innerlichesten Sinne mit (Dir) leide und ein so großes Bedürfnis in mir spüre, Dir irgendwie beistehen, Dir irgendetwas Gutes, Nützliches zu tun in mir spüre, dass es mich beinah zerreißt.
    Es macht mir ein wunderbares, ein wertschätzendes Gefühl für die Art, wie Du Dich hier reflektierst und wie Du immer wieder Willen entwickelst, nicht aufzugeben.

    Oh, wie sehr wünsche ich Dir, dass Du es schaffst, so sehr!! Und ja, ich sehe am Horizont Licht und Sonne für Dich. Deshalb, weil Du bist wie Du bist – ich habe deshalb einen festen Glauben, den dass DU es schaffen KANNST und schaffen WIRST!

    Am schönsten wäre es natürlich, wenn es schon bald keine der so schlimmen Rückschläge mehr geben würde. Dennoch möchte ich Dir so oder so einen kleinen Tipp geben, der mir IMMER geholfen hat, wenn mein Magen sich krank, überlastet fühlte oder war, wenn mich etwa aufgrund eines Infektes innerlich die Kraft verlassen hat, nur noch alles weh tat:

    Trinke, wenn es irgend geht, wenn Du es vermagst, Kamillen- oder auch Fencheltee. Ungesüßt, nicht zu heiß, aber schöln warm. Kleine Schlucke. Lass Dir Zeit, sie zu spüren. Es sind beides Tees, die nichts tun, außer heilen wollen. Ich habe das immer gefühlt, wenn ich sie getrunken habe, dann, wenn es mir wie in oben genanntem Sionne ging, ganz besonders. Die Kamillenwärme ist eine innerlich streichelnde Wärme.

    Mia, ich denke ganz fest an Dich, unabhängig von meinem eigenen Befinden – Du kannst Dich darauf verlassen, dass das so ist (es gibt da untere anderem mein Abendritual, in dem Du IMMER vorkommst), natürlich nicht nur in Deinen schweren Momenten, aber dann ganz besonders!

    Liebste Grüße an Dich, eine wunderbare Freundin! ❤

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    1. Lieber sternfluesterer,
      Auch deine Kommentare machen viel mit mir, aber alle Emotionen sind ausschließlich positiv! Du ahnst nicht, wie gut es mir tut, dass du so regelmäßig deine Gedanken bei mir hinterlässt! Es bedeutet mir viel, dass du meine intimen Gedanken wertschätzt – aber das würde ich nicht, wenn ich noch solche tollen Leser wie dich hätte!!

      Ich wünsche mir auch sehr, dass ich es schaffe, genauso wie ich es mir für dich wünsche!!

      Nur die liebsten Grüße! ❤️

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  6. Mia, dieser Beitrag ging mir sehr unter die Haut!
    Zeitgleich war ich berührt von deiner Ehrlichkeit, war getroffen von dem, was du fühlst, und vor allem beeindruckt von deiner Hoffnung!
    Ich glaube, so, wie du heran gehst, ist es genau richtig!
    Ss ist sicher hart, sich jedes mal nach einem Rückschlag die Motivation zu geben, dass es nun aufhören wird, doch diese Art von Denken ist richtig! Du bist sehr stark, wenn du dich in dieser Phase dazu aufraffen kannst, solch positive Worte zu verfassen!
    Denn du kannst ja auch stolz sein, immerhin war es ein „Rückschlag“. Es war eine Ausnahme und keine Regel! Wenn du das sagen kannst, hast du shhon so unglaublich viel geschafft!
    Und dass du die essstörung nicht so einfach abschütteln kannst, ist jedem klar. Es ist ein langer Prozess, ein Begleiter, der wohl immer irgendwo lauert. Doch du warst schon so oft stärker als er!
    Das ist das, woran du, auch wenn es unglaublich schwer sein muss, immer denken musst…
    Ich kenne mich in diesem Thema leider (oder zum Glück?) kaum aus, hatte ich besser nur wenig Berührungspunkte damit und hatte mich nur in einigen reportagen damit befasst. Deshalb möchte ich dir sagen, dass alles, was ich sage absolut vom Herzen kommt und ich hoffe, nichts davon ist angemessen oder unangebracht und verletzend. Man schätzt eine Situation schnell falsch ein und fühlt nicht so, wie der andere, auch, wenn man glaubt, den anderen verstehen zu können… Und schnell kann etwas, was man sagt, verletzend sein…
    Drum weise mich gerne immer darauf hin nie würde ich dich verletzen wollen, sollte es dazu kommen!

    Ganz liebe Grüße an dich und ich wünsche dir, dass du jeden täglichen Kampf bestehen kannst… Und vor allem die. Kraft dafür hast, weiter zu machen, wenn du es nicht schaffst! 💚

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    1. Wow, was für wunderschöne Worte! Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll, so gerührt bin ich!! Nichts von dem war unangebracht oder gar verletzend! Es freut mich viel mehr, dass auch nicht-Betroffene für meine Gedanken interessieren!

      Du hast natürlich völlig recht! Ein Rückschlag ist längst nicht mehr die Regel und man muss sich immer wieder vor Augen halten, wie viel man schon erreicht hat! Oft vergisst man, wie stark man ist, weil die negativen Emotionen meist prägender sind. Danke, dass du mich daran nochmal erinnert hast!!

      Ganz liebe Grüße!

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      1. Das erleichtert mich, dass die Worte den richtigen Ton gefunden haben ☺️
        Und manchmal sind die Worte eines unbefangenen vllt auch nicht das Schlechteste 😉 man selbst vergisst ja oft, worauf man eig stolz sein könnte, wenn man sich nicht regelrecht zwingt, die guten Dinge zu sehen…

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  7. Liebe Mia
    Ich kenne diese Situation so gut, und doch läuft es mir beim Lesen kalt den Rücken hinunter. Das könnten meine Worte sein. Die Schmerzen, das ausgetrocknete Gefühl, die wunde Zunge, die kaum noch Geschmack wahrnehmen kann, die Schwäche. Und dieses verdammte „nie wieder“. Bis zum nächsten Mal. Immer und immer wieder.
    Den Absprung habe ich erst dann geschafft, als ich das „nie wieder“ aufgegeben habe. Ich denke noch heute, ein Jahr und neun Monate nach dem letzten Essanfall, nicht an ein „nie wieder“. Wer weiss das schon? Aber JETZT nicht.
    Mir hat der Gedanke Angst gemacht, mir die Essanfälle für immer verbieten zu müssen. Was, wenn der Stress zu gross wird? Was, wenn jemand stirbt? Was, wenn ich wieder in eine depressive Phase gerate? Was, wenn ich mit dem Leben anders nicht mehr klarkomme? Ich glaube, es geht nicht darum, dass du nie wieder einen Essanfall haben darfst. Sondern darum, dass du sie irgendwann nicht mehr brauchst, obwohl du könntest. An dem Punkt stehe ich gerade, und der ist deshalb so besonders, weil ich merke, dass ich die Essstörung gar nicht mehr will. Ich muss sie mir nicht mehr verbieten, weil ich langsam lerne, all die Bedürfnisse, die sie gestillt hat, anders zu befriedigen. Das geht natürlich nicht von heute auf morgen und auch nicht mit zu viel Druck. Aber es geht.
    Und das wünsche ich dir auch. Du bist ein so wunderbarer, starker Mensch, und du hast den Mut und den Willen, ohne Essstörung zu leben – und das sind die besten Grundvoraussetzungen überhaupt. Du wirst das schaffen!
    Es hat Gründe, warum es zu diesem „Rückfall“ kam, und es darf so sein. Damit kannst du arbeiten. Und das ist gut so. Etwas platt formuliert: Man kann das Aufstehen nicht üben, wenn man nie auf die Schnauze fällt.
    Wenn du kannst, tu dir was Gutes. Dein Körper braucht dich jetzt. Sei für ihn da. Ihr verdient das beide.

    Alles Liebe und viel Kraft
    Elín

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    1. Danke liebe Elín, für deine ehrlichen und sehr aufbauenden Worte!! Natürlich freut es mich nicht, dass du dieses Leid kennst, aber damit bestätigt du mir auch, dass ich mit diesen Gedanken nicht alleine bin.
      Es ist ein sehr harter Weg und diesen machen sehr viele von uns.

      Deine Worte helfen mir sehr! Du hast recht, man muss sich nicht das Ziel setzen, es nie wieder zu tun – vielleicht macht es das ganze nur schlimmer!

      Ganz liebe Grüße!

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    1. Die Übelkeit kommt von Essanfällen und den daraus resultierenden Übergeben. Binge Eating ist leider sehr schmerzhaft und versucht mir Hilfe vom Essen den seelischen Hunger zu nähren.
      Danke für deine Buchempfehlung! 🙂

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