„Ach ja? Mir geht es viel schlimmer“ – Sind psychische Probleme neuerdings ein Wettbewerb?

Ihr wisst, dass ich sehr viel Respekt vor Menschen mit psychischen Krankheiten habe und nach wie vor finde, dass sie viel zu wenig gesellschaftliche Unterstützung bekommen. Aber wie jeden Bereich im Leben muss auch dieser hin und wieder kritisiert werden. Ich möchte euch hier erklären, warum ich es schwierig finde, wenn psychische Krankheiten als eine Art Wettbewerb gesehen werden.

„Mir geht es schlimmer.“

Eine Sache stört mich besonders bei einem Dialog mit bestimmten psychisch kranken Personen. Erzähle ich von meinem Schmerz, kommt keine Anteilnahme, sondern ein „Übertrumpfen.“

Das sieht dann so aus:

Ich: In letzter Zeit habe ich schlimme Schlafprobleme.

Sie (die Person): Ich habe schon seit Jahren schlimme Schlafprobleme.

Ich: Momentan habe ich Angst im Dunkeln.

Sie: Ich habe schon Angst, seit ich ein Kind war.

Ich: Heute bin ich ziemlich melancholisch drauf.

Sie: Willkommen in meinem Leben. So wie du dich fühlst, geht es mir jeden Tag.

Ich: Ich habe Angst davor zu versagen.

Sie: Was soll ich denn sagen? Ich habe sogar schon im letzten Jahr versagt und habe noch schlimmere Angst als du.

Wisst ihr jetzt, was ich meine? Dass ich etwas sage, was sofort übertrumpft werden muss?

Es bleibt kein Raum für meine Gefühle.

Sobald psychische Probleme ein Wettbewerb werden, wird nicht mehr richtig zugehört. Das gibt mir das Gefühl, dass meine Emotionen weniger wert sind. Und das führt dazu, dass ich mich nicht mehr traue mich zu öffnen, weil ich weiß, dass jene Person damit argumentiert, dass es ihr schlimmer geht als mir.

„Ich weiß ja, dass du schlimme Probleme hast, aber bei mir..:“

Andersherum erlebe ich es genauso. Manchmal rechtfertigen sich meine FreundInnen vorher und sagen so etwas wie: „Ich weiß ja, dass deine Kindheit viel komplizierter war und das gar nicht zu vergleichen ist, aber bei mir war es echt schlimm, als…“

Warum müssen sich Menschen vorher erklären, bevor sie sich mir anvertrauen können? Sind sie schon so sehr daran gewöhnt, übertrumpft zu werden? Können sie sich nicht vorstellen, dass ich eine Situation unabhängig von meiner Erfahrung einfühlsam bewerten kann?

Es gibt immer Menschen, denen es schlimmer geht.

Das bedeutet allerdings nicht, dass unser Schmerz und unsere Probleme weniger wert sind. Jeder Schmerz ist individuell. Jede/r hat ihre/seine eigene Grenze. Und das ist okay so. Es ist nicht nötig einen Wettbewerb daraus zu machen. Niemand kriegt einen Preis oder mehr Anerkennung deswegen. Das finde ich zumindest.

Versteht mich nicht falsch, ich möchte jenen Personen nicht ihre Gefühle absprechen. Aber ich erwarte, dass sie es bei mir genauso wenig tun.

Was ist eure Meinung dazu? Kennt ihr den Moment des Wettbewerbs bei psychischen Problemen? Habt ihr auch mal diese typischen Floskeln gehört?

PS.: Dieses Phänomen tritt natürlich nicht nur bei psychischem Schmerz auf, sondern überall. Und das finde ich ziemlich lächerlich. Wir sollten einander zuhören, ohne uns übertrumpfen zu wollen.

26 Kommentare zu „„Ach ja? Mir geht es viel schlimmer“ – Sind psychische Probleme neuerdings ein Wettbewerb?

  1. Ich bin auch absolut kein Freund von dem Denken, dass es anderen ja immer schlechter geht bzw. solchen Wettbewerben. Besonders bei dem Argument, dass es anderen ja noch viel schlimmer geht, habe ich mir mittlerweile folgendes Gegenargument zugelegt: „Darf es mir dann auch nicht gut gehen? Weil es gibt bestimmt Menschen, denen es noch besser geht als mir.“ Es von der anderen Seite zu betrachten zeigt ganz gut die Absurdität, die hinter diesen Vergleichen steckt.

    Gefällt 2 Personen

    1. Dein Spruch gefällt mir sehr! Dadurch wird einem tatsächlich klar, wie absurd das ganze ist! Aber ich wüsste nicht, ob ich mich das trauen würde in einer Argumentation auch laut auszusprechen, weil ich mich bei jenen Argumentationen schnell eingeschüchtert fühle. 🙈 Gelingt Dir das besser?

      Liebe Grüße!

      Gefällt 1 Person

      1. Da hast du natürlich recht! Ich glaube bei mir macht die Persönlichkeit des Gesprächs den Unterschied, ob ich sowas sagen kann oder nicht. Wenn ich von meinen eigenen Problemchen erzähle und dann so ein Satz kommt mit „anderen geht es noch viel schlechter“, dann sage ich meistens tatsächlich auch nichts. Wenn es allerdings um Gespräche geht, wo man sich mehr auf einer Metaebene befindet, dann hab ich das Argument schon durchaus häufiger eingebracht. Und das ist immerhin schon besser als gar nichts zu sagen, denke ich. 🙂

        Liebe Grüße

        Gefällt 1 Person

  2. Oh, das Problem kenne ich zu gut … von beiden Seiten aus, muss ich leider gestehen 😶

    Was ich immer sehr ärgerlich und verletzend fand, gerade im stationären Rahmen, war die Aussage älterer Mitpatienten, ich hätte es ja gut, weil ich „so jung“ erkrankt sei und dadurch schneller an eine Therapie usw. geraten wäre als sie und so jung noch ohne Verantwortung für eine eigene Familie etc. sei. Diese Aussagen brachten mich innerlich schnell auf die Palme, denn ich fühlte mich in meinem Schmerz und mit meinen Problemen dadurch nicht ernst genommen und abgewertet. Als Teenager oder junger Erwachsener zu erkranken bedeudet nämlich auch, in einer Lebensphase krank zu werden, in die so viele wichtige Lebensereignisse fallen: Schulabschluss, Berufswahl, erste Liebe, erste Wohnung, erster Job, vllt. Familiengründung …
    Durch die Krankheit hängt man gesundenen Gleichalten dann mitunter hinterher, braucht z.B. vllt. länger im Studium oder kann die Freiheiten dieser Zeit nicht so genießen wie Gesunde. Alles Punkte, die ich persönlich immer als sehr schmerzhaft empfunden habe. Wohingegen Menschen, die „erst“ mit 40, 50 erkranken, meist schon eine abgeschlossene Berufsausbildung/Studium haben, eine Wohnung, vllt. einen Partner undKinder, mehr finanzielle Sichherheit … (aber dafür natürlich auch mehr Verantwortung.)

    Leider kenne ich diese Wettbewerbssache aber auch von der anderen Seite. Wenn jemand z.B. erzählt, er hat „nur“ eine Diagnose, dass ich dann z.B. denke, derjenige hat es gut oder einfacher als ich mit mehreren Diagnosen – obwohl das ja gar nicht stimmen muss! Solche Gedanken mag ich an mir selbst gar nicht, ertappe mich aber selbst immer wieder mal dabei.

    Ich vermute, diese ganze Vergleicherei hat viel mit unserer modernen Leistungsgesellschaft zu tun, in der einem teilweise als Kind schon beigebracht wird, sich zu vergleichen: Wer ist Klassenbeste(r), Wer verdient wie viel? Usw….

    Auf jeden Fall ein sehr wichtiges Thema! Gerade die Mental Health-Szene auf Instagram finde ich in dieser Hinsicht teilweise bedenklich …

    Liebe Grüße

    Gefällt 4 Personen

    1. Danke für deinen ehrlichen Kommentar, liebe Nelia! Ich kann mir gut vorstellen, dass es dich verletzt hat, wenn andere dich dafür „beneidet“ haben, dass du so früh krank wurdest- genau wie es in deinem Fall schwer ist nicht zu vergleichen, wenn es andere „leichter“ haben. Aber du hast geschrieben, dass du DENKST, dass sie es leichter haben – nicht, dass du es Ihnen ins Gesicht sagst. Und da ist der entscheidende Unterschied! Das miteinander leben gestaltet sich so viel friedlicher, wenn wir nicht immer ins Gesicht sagen, was wir denken. Dann bleibt Raum für beide Gefühle und für die eigenen Gedanken!

      Liebe Grüße!

      Gefällt 1 Person

  3. Ich habe mal den Spruch gehört, man solle nicht Not mit Elend vergleichen. Und das stimmt einfach. Dir geht es nicht gut, dann ist das so. Aber wir wachsen so auf mit dem typischen „Anderen geht es viel schlechter“…. Mir geht es dann immer noch schlechter, weil ich das Gefühl habe, dass meine Sorgen/Probleme/Erkrankungen keine Berechtigung haben.

    Gefällt 2 Personen

  4. So lange Menschen dich zu übertrumpfen suchen, geht es ihnen noch nicht schlecht genug, um zu verstehen wie es ist, wenn man wirklich kaputt und am Boden ist. Menschen die wissen wie es sich anfühlt tot zu sein und doch zu leben, werden niemanden zu übertrumpfen suchen. Sie sind froh um jeden der ihnen das Gefühl vermitteln kann, daß Leben auch anders aussehen kann. Die zweite von dir erwähnte Fraktion, die dein Leid nutzen um ihres darstellen zu können, wissen überhaupt nicht was sie dir erzählen wollen. Daher wird deine Geschichte benutzt um eine eigene zu kreieren. Das geschieht nicht aus Bosheit, das geschieht aus einer falsch verstandenen Solidarität. Sie glauben dir ähnlich sein zu müssen, um deinen Level zu erreichen. Was natürlich der völlig falsche Weg ist, sich mit dem Anderen auseinander zu setzen. Beide Fälle geben einem letztendlich das Gefühl, das sie keine Ahnung haben und mit deinen Problemen nichts anfangen können. Statt zu glauben das sie mit Ratschlägen und Wissen an deiner Seite stehen müssen, sollten sie lernen das zuhören und Verständnis völlig ausreichen. Man sucht einen Freund und keinen Arzt. Vielleicht könnten man ihnen das sagen. Wäre dann einfacher für beide Seiten. So weit meine Erfahrungen dazu.

    Gefällt 2 Personen

  5. So ein Verhalten kenne ich auch gut.
    Da geht es überhaupt nicht um die Sache an sich. Das ist wohl einfach Typ bedingt. Es gibt Menschen, die haben kein eigenes Leben und müssen sich dann grundsätzlich an andere halten. Was das Problem ist, spielt dabei überhaupt keine Rolle. Eine echte Kommunikation ist mit solchen Menschen gar nicht möglich. Das hat weniger etwas mit Wettbewerb zu tun, auch wenn es einem so vorkommt. Das ist vielmehr das Unvermögen dieser Menschen ein richtiges Gespräch zu führen. Sie haben eben nichts zu sagen, da ist es viel einfacher sich deines Themas anzunehmen und das noch einmal zu höhen.
    Solche Menschen tun mir eigentlich eher leid. Nervig ist es trotzdem. Ich versuche mich mit solchen Menschen gar nicht mehr zu unterhalten, weil es ohnehin nichts bringt.
    Und wenn es einem zudem schlecht geht, dann kann man solche Gespräche gar nicht gebrauchen.

    Gefällt 1 Person

  6. Ich kenne das leider auch sehr gut.
    Auch bezogen auf andere Dinge. Habe ich Kopfschmerzen, hat Person A Migräne. Habe ich in der letzten Nacht nur zwei Stunden geschlafen, hat Person A nur eine halbe Stunde geschlafen.
    Das ist kräftezehrend. Irgendwann erzählt man betreffenden Personen einfach gar nichts mehr, weil sie eh immer alles +1 hat. Wie im Kindergarten „immer einmal mehr als du!“

    Mir ist es eine ganze Zeit lang auch sehr schwer gefallen das Leiden nicht zu vergleichen. Ist doch die Versuchung groß, einer Magersüchtigen mit einem einstelligen BMI mehr Leid zuzusprechen, als derjenigen, die vielleicht noch zehn Kilo schwerer, aber dennoch deutlich untergewichtig ist.
    Das sind Gedanken, die ich noch immer beschämend finde. Mittlerweile ist mir natürlich bewusst, dass das absurd ist. Man kann das individuelle Leid nicht vergleichen.

    Dennoch habe ich Menschen kennengelernt, bei denen ich mich zB nicht traue von meinen Schlafstörungen zu sprechen, weil ich weiß, dass sie nur mit Hilfe von Tabletten schlafen können. Dann fühlen sich meine Probleme für mich so vollkommen nichtig an.

    Ein schwieriges Thema.

    Auch, wenn ich weiß, dass sich Leid nicht vergleichen lässt, geschieht es doch immer wieder und muss ich meine Gedanken korrigieren.

    Gefällt 3 Personen

    1. Ich glaube auch, dass es manchmal unweigerlich geschieht, dass man ganz intuitiv vergleicht und für die eine Person mehr oder weniger Empathie empfindet. Besonders schwer wird es, wenn die Vergleiche völlig weit auseinanderliegen.

      Vermutlich muss man für sich entscheiden, inwieweit man sich anderen öffnet – aber ob du dich anvertraust oder nicht – deine Schlafstörungen sind genauso ernst zu nehmen, wie die der anderen!

      Liebe Grüße!

      Gefällt 1 Person

  7. Bloß weil es Menschen gibt denen es schlimmer geht, macht es deine Probleme nicht weniger schlimm. Wenn es dir manchmal nicht gut geht dann ist es für dich so und es braucht keine Rechtfertigung für deine Gefühle noch musst du dich dafür irgendwie schlecht fühlen. Es ist okay wenns dir auch mal ne zeitlang nicht gut geht ❤

    Gefällt 1 Person

  8. Man darf natürlich nicht vergessen, dass es sich hier um rein subjektive Sichtweisen handelt, die einen solchen Wettbewerb verursachen. Dazu mischen sich natürlich charakterliche Anteile der jeweiligen Person. Ich kenne genug Menschen, die ihr Leiden sogar runter spielen, um nicht genauso dazustehen, wie du es hier gerade beschrieben hast. Und ich finde sowas sollte auch nicht passieren. Ein offenes Gespräch mit solchen Menschen, vor allem wenn es sich um nahestehende handelt könnte eine Lösung sein, denn nicht jedem ist bewusst, was er mit seinem ‚Wettbewerb‘ bei dir auslöst.

    Gefällt 1 Person

  9. Solche Antworten sind eine eindeutige Absperrung, die sagen: „ich habe keine Lust mich mit Deinen Sorgen zu befassen“.
    Quasi: „Sorry, doch Du interessierst mich überhaupt nicht“.
    Und sie haben den Vorteil, dass Du gleich von Anfang an weisst, dass der Kontakt mit ihnen keine Bereicherung für Dich ist, und Du Dir ersparst, weiter Zeit und Gefühle zu invenstieren.

    Gefällt 1 Person

Hinterlasse einen Kommentar