Selbstentfremdung – Wissen wir überhaupt, wie es uns wirklich geht?

Da mich das Thema Selbstentfremdung seit meiner letzten Therapiestunde nahezu permanent beschäftigt, habe ich mich entschieden, einen Beitrag darüber zu schreiben. Denn obwohl ich eigentlich dachte, dass ich ein sehr reflektierter Mensch bin, gilt das trotzdem nicht immer für mein eigenes Empfinden.

Sich selbst belügen, ohne es zu merken?

Ja, das geht. Ich weiß das deshalb so gut, weil ich es lange Zeit vor mir selbst verleugnet habe, krank zu sein. Allerdings gilt das nicht nur für meine Essstörung, sondern für nahezu alle Lebensbereiche.

In der Therapie neulich fragte mich meine Therapeutin nach meinem Wochenende.

Ich sagte ihr, dass es mir nicht so gut ging, obwohl ich eigentlich ein paar schöne Tage hatte. Die Trauer in mir kam meiner Meinung nach völlig grundlos. Doch als wir mein Wochenende Stück für Stück auseinandernahmen, wurde schnell klar, dass mein Wochenende eigentlich gar nicht so gut war. Im Gegenteil, ich war gestresst und sehnte mich nach Ruhe. Dennoch ließ ich mich zu Aktionen und Treffen breitschlagen und überschritt meine eigenen Grenzen. Es ging mir nicht gut, aber ich wusste es selbst nicht.

„Sie sind völlig selbstentfremdet“, sagte meine Therapeutin zu mir.

„Sie nehmen ihre eigenen Grenzen nicht wahr. Sie sagen ja, obwohl Sie nein sagen wollen. Sie denken zu sehr an andere als an sich selbst.“

Und sie hatte recht. Ich wollte nicht raus, aber ich konnte nicht nein sagen. Ich wollte niemanden enttäuschen und erst recht nicht kurzfristig hängen lassen. Ich ließ mich auf alles ein und redete mir selbst ein, dass es vielleicht nett werden würde. Was es auch war. Aber es war gleichzeitig auch zu viel für mich.

Übrigens ist diese Selbstentfremdung ein weiterer Grund für meine Essstörung. Da ich mich am Tag so vielen Dingen aussetzte, die mir nicht gut taten, brauchte meine Psyche am Ende des Tages ein Ventil. Einen drogenartigen Kick, damit es mir wieder gut ging. Essen…

Warum kann ich bei anderen reflektieren, aber bei mir selbst nicht?

Wenn ich die Frage selbst beantworten müsste, würde ich sagen, dass ich es nicht anders gelernt habe. Mit der Zeit habe ich es mir abgewöhnt, meine innere Stimme wahrzunehmen. Ich stelle mich hinten ran und bin zu bescheiden, um meine Wünsche durchzusetzen. Ein bisschen weiß ich auch, woher das kommt, aber der Großteil ist vermutlich jahrelange Gewohnheit.

Selbstentfremdung kann gefährlich werden.

Sich selbst und seine Grenzen zu verleugnen hatte noch nie ein gutes Ende. In meinem Fall habe ich meine Krankheit viel zu spät erkannt und mich auch viel zu spät aus toxischen Umfeldern und Beziehungen befreit.

Reflexion lautet das Stichwort. Aber nicht nur bei unserem Umfeld, sondern vor allem auch bei uns. Wie geht es uns wirklich? Fühlen wir uns fit genug, um uns zu treffen? Sollten wir nicht eher nein sagen? Sollten wir nicht auch an uns, als an andere denken?

Buchtipp: Das Kind in dir muss Heimat finden.

Sicherlich kennen einige von euch den Titel, denn inzwischen ist das Buch sehr populär. Doch ich teile seinen Hype, denn wenn es darum geht, sich selbst zu reflektieren, hält das Buch ein paar wunderbare Methoden bereit. Seit ich das Buch lese, habe ich so viel Neues über mich selbst erfahren.

Wie ist das mit euch mit der Selbstentfremdung? Kennt ihr das Gefühl, euch selbst zu belügen und eure eigenen Grenzen nicht wahrzunehmen?

13 Kommentare zu „Selbstentfremdung – Wissen wir überhaupt, wie es uns wirklich geht?

  1. Guter Buchtipp! 🙂 😀 Ich bin immer noch nicht vorangekommen, aber man sollte sich auch genügend Zeit nehmen, um es durchzulesen bzw. durchzuarbeiten. Ich finde auch, dass Selbstreflexion wahnsinnig wichtig ist und denke, dass wir es entweder verlernt oder es nie gelernt haben. Unsere Gesellschaft ist so schnelllebig, wann nimmt man sich da mal Zeit für sich und horcht in sich hinein? Wir hetzen von einem Termin zum anderen. Eigentlich sollte man jeden Tag ein paar Momente haben, in denen man zur Ruhe kommt. Es ist auch schwierig, das umzusetzen, aber sehr wichtig, glaube ich… Ich habe mir auf jeden Fall vorgenommen, die Selbstreflexion mehr in meinen Alltag zu integrieren. Also: Sehe ich auch so, ein sehr wichtiges Thema und schön, dass du darüber hier schreibst! 🙂

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    1. Danke – das Buch wurde mir von einem sehr lieben Menschen empfohlen! 😛 Und ja, ich gebe dir absolut recht, dass unsere Gesellschaft zu wenig im Moment lebt und auch mal innehält, um sich und seine Entscheidungen zu hinterfragen! Aber Einsicht ist der erste Schritt 🙂

      Liebe Grüße!

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      1. Ich Versuche nach innen zu fragen,wer was braucht, aber dieser Zugang funktioniert leider nicht immer. Also ist der Funktionsmodus an. Ansonsten…. Nichts weiter.

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  2. Ein sehr wichtiger Artikel, liebe Mia!

    Liebe Grüße
    Marion

    (Ehemals Wechselweib)

    PS: ich blogge jetzt unter „Panta rhei“ auf „dennallesfliesst.home.blog

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  3. Ich glaube, ein gewisses Grad an Selbstentfremdung haben die meisten Menschen heutzutage. Oft fehlt die Zeit, wirklich in alles hinein zu spüren und selbst wenn man merkt, dass man etwas eigentlich nicht möchte, ist es gar nicht immer möglich, was anderes zu machen, sodass man die innere Stimme überdecken „muss“. Und ich glaube auch, die heutige Präsentations- und Zur-Schau-Stell-Gesellschaft trägt dazu bei. Also dieses selbstdarstellerische höher, besser, weiter, ohne die Kehrseite des „High-Life“ zu zeigen. Erwartungen von außen, die als eigene wahrgenommen werden oder eben auch die Erziehung…
    Ich stehe da selber oft genug im Konflikt mit mir.

    (Hoffe du kannst meinen Halbsätzen etwas entnehmen 😀 )
    Liebe Grüße!

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