Bereuen wir am Ende wirklich die Dinge, die wir nicht getan haben?

Wenn es um Reue geht, dann oft um Fehltritte, die in schwachen, impulsiven oder energischen Momenten geschahen und am liebsten wieder rückgängig gemacht werden wollen. Aber was ist mit den Dingen, die wir nicht getan haben? Bereuen wir diese am Ende vielleicht doch am meisten?

„Ich hab noch nie…”

Kennt ihr das bekannte Partyspiel? Die Frage wird gestellt und mit irgendwas (z. B. geraucht) ergänzt, bei der die Spieler trinken, wenn sie „es“ gemacht haben.

Ich war immer ziemlich schlecht in dem Spiel, weil ich vieles eben nicht getan habe. Ich war das „good girl“ unter meinen Mitmenschen. Ich habe nie für eine Challenge etwas geklaut und illegale Drogen genommen habe ich auch nicht. Ich war noch nie betrunken und habe daher nicht „irgendwas Lustiges“ im Suff gemacht. Ich war meistens das brave Kind mit der weißen Weste.

Habe ich in alle den Jahren etwas verpasst?

Viel zu oft habe ich das ignoriert, was ich will und das getan, was ich tun soll. Ich bin pünktlich nach Hause gekommen und habe nicht gegen die Entscheidungen meiner Eltern rebelliert.

Verboten = in Erinnerung bleibend

Wenn ich an meine wenigen „verbotenen“ Taten denke, dann sind diese die intensivsten Emotionen…

Ich weiß noch, wie ich einem Jungen aus meiner Schule in der Nacht die Tür öffnete und wir uns in mein Zimmer schlichen. Meine Mutter wäre ausgeflippt, hätte sie davon gewusst, daher war der ganze Abend von zusätzlicher Aufregung überschattet. Noch heute fast zehn Jahre später, kann ich mich noch sehr gut an diesen emotionsreichen Abend erinnern. Ich denke mit einem Lächeln daran und fühle mich auch nicht schuldig, obwohl ich meine Mutter so gesehen hintergangen habe…

Auch die Nacht im Hotel in Marokko (ich war glaub ich sechzehn), als meine Schwester, ein paar Freunde und ich uns ins oberste Stockwerk in eine Art Speiseraum schlichen und unsere eigene kleine Party schmissen (bis wir erwischt wurden und allesamt in andere Richtungen flohen), löst prickelnde Gefühle in mir aus, das von einem breiten Grinsen begleitet wird.

Ich bereue diese Taten nicht. Ich bin sogar froh, dass sie ein Puzzlestück meiner Erinnerungen sind. Leider habe ich zu wenige von ihnen, denn wie gesagt – ich war ein braves Kind, das keinen Ärger machte.

Etwas nachtrauern, das ich gar nicht will?

Ein guter Freund von mir ist der felsenfesten Überzeugung, dass mir im Leben was entgehe, weil ich noch nie irgendwelche Drogen genommen habe. Bis heute kann ich ihm nicht zustimmen, weil ich nach wie vor keinen Reiz – eher das Gegenteil – verspüre. Ich bereue es nicht, dass ich die Finger immer von jenem Zeug gelassen habe, deshalb gibt es für mich auch kein Nachtrauern.

Etwas nachtrauern, das ich will, aber nicht darf?

Anders ist es bei Dingen, bei denen ich weiß, dass ich sie will, aber aus verschiedenen Gründen nicht darf. Zum Beispiel gab es mal einen Jungen, in den ich mittelschwer verliebt war. Er hatte allerdings eine Freundin, was ihn als potenziellen Kandidaten ausschloss. Dachte ich. Er mochte jedoch mich auch, überschritt zu viele Grenzen, flirtete, telefonierte stundenlang mit mir und brachte mich, ganz der Kavalier, immer brav nach Hause. Aber er hatte ja eine Freundin, deshalb redete ich mir ein, dass es ja alles nur platonisch sei. Und dabei blieb es auch. Obwohl ich so sehr mehr wollte, zog ich mich schließlich zurück. Wäre dies nicht passiert, hätten wir mit Sicherheit weitere Grenzen überschritten. Bereute ich es? Ja. Anfangs schon. Inzwischen nicht mehr, denn mein moralischer Kodex (weniger wegen der Tat, sondern dem anderen unschuldigen Mädchen gegenüber) hätte ein solches Verhalten nicht geduldet.

Etwas nachtrauern wegen einem zu großen Ego?

Einige Dinge bereue ich allerdings wirklich und das sind diejenigen, in denen mein Stolz mir bestimmte Dinge verbat. Viele schöne Momente habe ich gar nicht erst zu welchen kommen lassen, weil ich zu stur war. Ein Jammer. Hätte ich meinen Stolz ab und an mal runtergeschluckt, hätte ich mal den ersten Schritt gemacht oder einfach mal nachgehakt. Hätte, hätte, hätte.

Es ist nie zu spät, um von vorn zu beginnen.

Ich bin sicher, dass ich auch weiterhin die Finger von Drogen und sämtlichen Rauschmitteln lassen werde. Ebenfalls sicher bin ich, dass ich meinen moralischen Werten die Überhand geben werde, auch, wenn sie mich gelegentlich mit einem Stich zurücklassen werden. Was ich aber weiß, ist, dass ich mir keine Situationen mehr entgehen lassen will, in denen ich zu stolz oder zu stur bin. Ja, ich werde sehr schnell gekränkt, aber ich will lernen, daran zu arbeiten.

Außerdem sind Dinge, die man bereut oder nicht bereut, nicht nur ein Phänomen der Jugend. Wir alle können in jedem Alter laut, wild, kindisch oder verspielt sein. Noch immer haben wir die Zeit, uns neuen Herausforderungen zu stellen und erst im Nachhinein zu entscheiden, ob wir es bereuen oder nicht. Denn was fast genauso zermürbend, wie ein reuevoller Moment, ist das frustrierende „Was wäre wenn“, das niemals beantwortet werden kann.

Wie seht ihr das? Glaubt ihr auch, dass wir am Ende die Dinge bereuen, die wir nicht getan haben?

 

18 Kommentare zu „Bereuen wir am Ende wirklich die Dinge, die wir nicht getan haben?

  1. Liebe Mia, da stellst du wieder sehr gute Fragen.

    Ich denke, bereuen kann man im Nachhinein alles, denn hinterher ist man immer klüger.

    Wirklich kennen tun wir aber natürlich nur das Ergebnis genau des Wegs den wir gegangen sind. Wirklich wissen, was passiert wäre, hätten wir uns an irgendeiner Stelle anders entschieden, können wir nie. Wir wissen nicht, wenn wir die Drogen an dem einen Tag nicht probiert hätten, ob wir nicht zu einem anderen Zeitpunkt aus Langeweile eine andere dumme Entscheidung getroffen hätten. Und wir wissen nicht, ob wir, wenn wir uns aus oberflächlichen Gründen gegen eine Beziehung zu einem ungünstigen Zeitpunkt entschieden haben, heute wirklich mit diesem Menschen so glücklich wären.

    Überhaupt ist ja irgendwie jede Entscheidung gegen etwas auch gleichzeitig eine Entscheidung für etwas anderes.

    Und im Nachhinein ist es eben immer leicht zu sagen „hätte ich xy anders gemacht, wäre ich jetzt nicht hier“.

    Die Faszination der Dinge, die wir nicht gemacht haben ist aber eben immer die der vermeintlich unendlichen Möglichkeiten, was hätte passieren können. Ich glaube, das gibt den Dingen, die man nicht gemacht hat, oft gefühlt eine größere Signifikanz, als den Dingen, die man eben doch gemacht hat. Wir können uns den bestmöglichen Verlauf der Ereignisse vorstellen und dann bereuen, dass das nicht eingetreten ist. Wie realistisch das ist, ist die andere Frage.
    Und manche Dinge muss man vielleicht wirklich einfach ausprobieren, um diese innere Stimme zu beruhigen.

    Die Frage, die ich mir da aber immer stelle ist: bringt es mir etwas, Entscheidungen zu bereuen? Wenn ich eine Entscheidung bereuen muss, damit ich etwas für die Zukunft daraus lernen kann, dann bin ich da voll dabei. Aber wenn es für mich in der Gegenwart nichts ändert und ich anerkennen kann, dass ich zu jedem Zeitpunkt gute Gründe (in Anbetracht dessen, was ich damals wusste) für meine Entscheidungen hatte, dann muss ich auch nichts bereuen, sondern kann akzeptieren, dass ich nun mehr weiß und die Vergangenheit als Wegweiser für die Zukunft nehmen.

    Viele Grüße und alles Liebe dir ❤️

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    1. Liebe Grübel-Eule, danke für deinen wundervollen Kommentar! Wie immer regt er mich sehr zum Nachdenken an! Tatsächlich hatte ich mir nie groß überlegt, wenn dieses „Hätte“ wirklich etwas besser/schlechter gemacht hätte oder nicht.

      Auch dass du das Bereuen selbst (also, ob es dir überhaupt was bringt oder nicht) hinterfragst, finde ich spannend. Ich glaube ich sehe es ähnlich wie du, dass die Reue nicht nötig ist, wenn sie aus heutiger Sicht nichts bringt. Dann heißt es Akzeptieren/Verzeiehn und weitermachen.

      Liebe Grüße! ❤

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  2. Für mich ist es irgendie immer ein Stück weit Perspektivenfrage. Man kann etweder mit dem Blickwinkel auf eine Erinnerung schauen, dass man bereut sie gemacht zu haben oder eben, dass man es bereut, etwas nicht gemacht zu haben. Klar, bei gewagten Dingen überwiegen die starken Emotionen, doch ich würde dieses „Bereuen“ und „Nicht-Bereuen“ auch auf ganz alltägliche Entscheidungen beziehen.

    Vielleicht ein Beispiel: Ich war ein Jahr als Au Pair in einer Gastfamilie, in der es mir überhaupt nicht gut ging. Ich hätte die Wahl gehabt, das Jahr entweder zuende zu bringen und alle Erfahrungen bis zum Ende mit zu nehmen oder das Jahr komplett abzubrechen und nach Hause zu fahren. Jetzt kann ich es von zwei Seiten betrachten: Entweder, ich bereue, es nicht abgebrochen zu haben und dadurch noch stärker in psychische Probleme gerutscht zu seit oder ich bereue es nicht, weil es trotzdem eine lehrreiche Zeit war und ich nicht wissen kann, wie sich mein Leben sonst entwickelt hätte.

    Dann im Bezug auf Essstörungsgenesung: Ich könnte es bereuen, nicht früher Hilfe gesucht zu haben oder die ersten schlechten Entscheidungen getroffen zu haben oder es nicht bereuen, weil ich nicht wissen kann, wo ich jetzt sonst stehen würde.

    Und klar, es gibt Dinge, die bereue ich getan, beziehungsweise nicht getan zu haben. Ändern kann ich sie allerdings auch nicht mehr und je mehr ich bereue, desto mehr hänge ich in der Vergangenheit fest, statt mich auf das hier und jetzt und die Möglichkeiten in der Zukunft zu konzentrieren.

    Man kann nie wissen, wie eine Sache gewesen wäre, wenn man sie nicht gemacht hätte. Wenn man sie gemacht hat, kann man wiederum bereuen, es getan zu haben (wenn es anders war, als man erwartet hat) oder es eben nicht bereuen (wenn die gesamte Erfahrung gut war).
    Ich glaube, Bereuen entsteht oft, wenn man im Nachhinein bemerkt, dass die Sache spaßig oder gut gewesen wäre und man eine Chance verpasst hat. Wenn man jedoch im Nachhinein bemerkt, dass andere etwas getan haben und es schlecht ausgegangen ist, würde man es nicht bereuen, nicht dabei gewesen zu sein, oder?

    Will sagen: ob wir etwas bereuen oder nicht hängt immer stark von der eigenen Perspektive und dem Ergebnis der Sache ab. Keiner kann in die Zukunft blicken, also kann auch keiner wissen, was gewesen wäre, wenn. Klar kann man im Nachhinein Dinge bereuen, doch ändern kann man sie auch nicht mehr, sondern nur daraus lernen und in einer nächsten Situation neu entscheiden.

    Liebe Grüße!

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    1. Deine Aussage, dass an durch das Bereuen noch ein Stück weit die Vergangenheit festhält, klingt sehr in mir nach. Ich musste beim Lesen an mein Kaninchen denken, dass verstarb und bei dem ich mir noch sehr lange Vorwürfe machte /tw heute noch), es nicht gut genug behandelt zu haben. Aber man kann die Vergangenheit nicht ändern, allerhöchstens von ihr lernen.

      Auch, dass es eine Perspektivfrage ist, finde ich spannend, wobei ich glaube, dass natürlich immer mehrere Möglichkeiten gibt und man im Nachhinein gar nicht wissen kann, wie sich alles sonst entwickelt hätte. Bei sowas ist vielleicht auch ein Mittelweg die dritte Lösung – z.B die Gastfamilie wechseln – gab es diese Möglichkeit für dich?

      Danke für deinen Kommentar und all die neuen Gedankenanstöße 🙂

      Liebe Grüße!

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      1. Zu den Vorwürfen (kenne ich vom Tod meiner Mum): ich versuche mich dann immer daran zu erinnern, dass ich zu jedem Zeitpunkt nur genau so handeln konnte und gehandelt habe, wie ich es wusste. Wenn ich gewusst hätte, was passieren würde, hätte ich anders entscheiden /können/, aber nicht zwangsweise müssen. Im Nachhinein ist man immer schlauer und kann daraus für die nächsten Male lernen. Klar, diese Einstellung reicht nicht immer aus und manchmal muss man sich daran erinnern, aber man kann es eigentlich auf viele Dinge beziehen, die man im Nachhinein bedauert.

        Mit der Perspektivenfrage meine ich hauptsächlich die Bewertung im Nachhinein, nicht andere Möglichkeiten. Klar, meistens gibt es mehr als zwei Möglichkeiten und die Welt ist nicht schwarz-weiß.
        Zu meiner Gastfamilie: ein Rematch wäre tatsächlich von der Agentur aus nicht möglich gewesen. Ich hätte mir zwar privat eine neue Gastfamilie suchen können, war aber damals schon viel zu verstört, um mir das zuzutrauen.

        Liebe Grüße 🌻

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  3. Ich habe mehr Dinge bereut, die ich getan habe als Dinge, die ich nicht getan habe – zumindest bis jetzt. Viele Sachen, die ich als Jugendliche/sehr junge Erwachsene getan habe, würde ich am liebsten ungeschehen machen. Schade, dass man nicht Erinnerungen aus dem Gedächtnis löschen kann… Ich habe damals so viel Mist gemacht, wahrscheinlich aus reiner Naivität, weil ich ja nie was durfte und so keine eigenen Erfahrungen machen konnte.

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  4. Bereuen tue ich eine Sache. Ich war total verknallt in einem Jungen in meiner Klasse. Auf einer Klassenfahrt kam ich nachts zurück ins Zimmer und er lag in meinem Bett. Anstatt mich dazu zu legen sprach ich ihn an, aber er reagierte nicht und da bin ich gegangen und habe in seinem Bett geschlafen. Er ist mir danach aus dem Weg gegangen und ich konnte nichts sagen. Ich hätte schlechte Erfahrungen gemacht mit einem anderen Jungen, den ich geküsst hatte und der mich zur Schlampe abstempelte. Ich wollte nie wieder so was erleben, wollte kein Kurzerlebnis sein und wäre lieber mit ihm ausgegangen. Jahrelang habe ich nicht darüber nachgedacht. Erst jetzt mit 50 denke ich ständig daran und werde das nicht los. Warum habe ich nichts gesagt? Warum habe ich ihn nicht angesprochen? Ich orientiere mich gerade beruflich um. Ich weiss nicht, ob es am Alter liegt oder der Umbruchphase oder den Wechseljahren. Es belastet mich im Moment einfach nur.

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    1. Danke für das Teilen dieser ehrlichen Erinnerung! Ich kann es total verstehen, warum du damals nicht zu ihm gegangen bist – nach der Geschichte, die zuvor passiert ist, kein Wunder. Hast du mal überlegt, diesem Typen zu schreiben und ihn einfach zu fragen? Vielleicht ist es ja noch nicht zu spät?

      Liebe Grüße!

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