Sprache ist im stetigem Wandel, und so sollten auch wir es sein. Im heutigen Beitrag geht es darum, warum Begriffe, wie Über- und Untergewicht äußerst problematisch sind. Hierfür war die liebe Cornelia Fiechtl, eine Ernährungspsychologin, so lieb und hat mir ein paar Fragen beantwortet.
Früher dachte ich, dass die Zuschreibung „dick“ diskriminierender ist als „übergewichtig“. Letzteres erschien mir irgendwie höflicher und weniger alberner. Mit der Zeit erfuhr ich, dass dem allerdings überhaupt nicht so ist und durch die Reproduktion dieser Begriffe Menschengruppen weiterhin diskriminiert werden.
Glücklicherweise war die liebe Cornelia so lieb, und hat sich die Zeit genommen, meine Fragen aus der professionellen Sicht einer Ernährungspsychologin zu beantworten. In dieser Debatte sind nämlich definitiv die Meinungen der Expert:innen gefragt!
Warum Begriffe wie Über- und Untergewicht problematisch sind
Liebe Cornelia, wer bist du und was machst du?
Hallo, vielen lieben Dank, dass ich mit dir heute über dieses wichtige Thema sprechen darf. Ich bin diplomierte Psychologin mit dem Schwerpunkt Essverhalten. Um zu erklären, was ich mache, darf ich kurz etwas ausholen: Ich habe nie verstanden, warum wir im Bereich Ernährung & Psychologie immer nur über die „richtige Ernährung“ und Essstörungen sprechen. Das war mir immer zu wenig oder zu kurz gegriffen. Es gibt so viele Menschen da draußen, die sich den Kopf darüber zerbrechen was sie essen sollen, wann sie essen sollen und wie viel. Das Essverhalten wird immer verkopfter und wir kommen immer mehr von den körperlichen Mechanismen weg, die uns eigentlich genau diese Fragen beantworten. Kein Buch, kein Experte weiß es besser als der eigene Körper. Essen wir bewusst und achtsam, dann spüren wir unsere Sättigung und können die Menge danach richten, anstatt irgendwelchen Vorgaben zu folgen, die auf Statistik beruhen. Dabei ist es egal ob wir Pizza, Salat oder Schokolade essen. Halten wir uns an definierte Vorgaben, zügeln uns bewusst oder essen ständig nebenbei, kommt es stattdessen zu Überessen und einem ständigen Verlangen nach essen. Wir trainieren uns ein verkopftes und ungesundes Essverhalten an, dass wir dann wieder versuchen mit verkopften Techniken zu lösen. Der Körper wird dabei oft zum Kampfgebiet. Ein Kreislauf der aus meinen Augen gefährlich und sinnlos ist. Deshalb habe ich mich auf die Suche nach anderen Wegen gemacht.
Heute begleite ich Menschen zurück zu einem natürlichen Essverhalten und einem positiven Körpergefühl. Damit wird das essen befreiter, leichter und der eigene Körper wieder ein Wohlfühlort. Ich arbeite online mittels Coachings, führe online ACHTSAM ESSEN Kurse durch und betreibe auch den ACHTSAM ESSEN Podcast. Wissen einer Ernährungspsychologin.
Was suggerieren die Worte „Übergewicht“ und „Untergewicht“?
Die Worte Über und Unter suggerieren uns, dass es ein bestimmtes Gewicht gibt, von dem wir annehmen, dass es das richtige oder ideale Gewicht wäre. Alles, was über oder unter diesem Gewicht liegt, wird als nicht gut oder falsch angesehen. Schließlich liegt es ja nicht im idealen Bereich. Damit beginnt dann oftmals der Körperkampf. Verzweifelt und mittels Diäten versuchen duzende Frauen in diesen Idealbereich zu kommen, jagen einer statistischen Zahl nach. Zum Teil mit wirklich gesundheitsschädigenden Methoden und Folgen. Von der psychischen Belastungen, der ständigen Last, die die ganze Tortur mit sich bringt, ganz zu schweigen. Und auch die Gesellschaft definiert unseren Köper unsere Gesundheit und die Frage ob wir „richtig“ sind über unser Gewicht.
Jetzt ist natürlich die Frage warum wir überhaupt so ein Gewicht einschätzen müssen? Die Antwort liefert uns das Gesundheitssystem. Wenn wir über Gesundheit und Krankheit sprechen, dann braucht es laut unserem System bestimmte Kriterien anhand derer wir Gesundheit einstufen. Das Gewicht ist eines dieser Kriterien. Und demnach ist in unseren Köpfen das Gewicht so sehr mit dem Thema Gesundheit verbunden und dünn oder schlank steht hierbei für gesund.
Stimmt es, dass Menschen im sogenannten „Über- und Untergewicht“ ungesünder sind?
Das ist genau das verrückte an der Sache. Es gibt Menschen so vieler Ländern, Kulturen, Körperformen, Altersgruppen etc. Und für all diese Menschen soll es einen idealen Gewichtsbereich geben, der für Gesundheit steht? Völliger Blödsinn. Der BMI und all die Erkenntnisse zum Thema Gesundheit stammen aus Studien. In Studien versucht man Werte, die für Gesundheit stehen in Form von Zahlen darzustellen. Diese Zahlen erhält man durch medizinische Untersuchungen oder aber durch Fragebögen. Und aus den Ergebnissen von tausenden Menschen bildet man einen Mittelwert. Das ist wie die Endnote 3 im Zeugnis, obwohl man vielleicht niemals einen 3er gehabt hat. Somit ist der 3er eine statistische Zahl, der nichts mit der Realität zu tun hat.
Beim BMI ist es ähnlich. Natürlich hat der BMI eine gewisse Berechtigung. Das Problem ist aber, dass im Alltag vergessen wird, dass der BMI ein Richtwert sein muss und nicht als alleiniger Marker für Gesundheit heran gezogen werden kann. Wir müssen über den Tellerrand blicken und uns alle anderen Aspekte des Verhaltens auch ansehen. Eine Person, die im höheren BMI Bereich liegt, sich aber einseitig ernährt und mega unglücklich mit ihrer Figur oder mit ihrem Leben ist, kann doch nicht gesünder sein, als eine Person die ein höheres Gewicht hat, sich abwechslungsreich ernährt und glücklich ist. Wie einseitig ist so eine Definition von Gesundheit? Gesundheit kann nicht durch eine Zahl ausgedrückt werden, es gehört so viel mehr dazu. Das vergessen wir aber viel zu oft.
Der zweite größte Fehler der häufig geschieht ist, dass dünn sein mit Gesundheit assoziiert wird. Wir reden ständig davon, was ein Mehrgewicht auslöst, vergessen aber, dass ein Niedriggewicht ja nicht aussagt, dass man keine Fettleber oder sonst irgendwelche Erkrankungen hat. Man kann in keinen Körper hinein sehen, deshalb sollten wir keine Schlussfolgerungen vom Äußeren ableiten. Das ist der bekannt HALO Effekt. Unsere Gesellschaft hat Schönheit mit schlank, dünn und Disziplin verbunden. Sehen wir eine Person auf die das zutrifft, denken wir sie ist gesund.
Auch spannend ist, dass Personen mit einem moderaten Mehrgewicht sogar eine längere Lebenserwartung haben. Das zeigt uns, dass wir Gesundheit neu definieren müssen. Nicht über ein Körpergewicht, dass einfach nichts aussagt sondern über Verhaltensweisen. Bei der Prävention im Gesundheitsbereich geht es ja um Verhaltensweisen. Wie können wir Verhaltensweisen mit einer statischen Zahl messen, die keinen Rückschluss auf Verhaltensweisen erlaubt? Da liegt noch viel Arbeit vor uns.
Was machen diskriminierende Beschreibungen mit unserem Körperbild und unserer Psyche?
Kurz und knackig: Sie machen uns krank! Wenn es heißt, eine mehrgewichtige Person, isst zu viel ist undiszipliniert und kann sich nicht bewegen, was werde ich dann als mehrgewichtige Person für eine Message bekommen? Ich fühle mich ständig falsch, nicht richtig und fehl am Platz. Also werde ich versuchen mit allen Mitteln anders sein zu wollen. Diäten und Zügelung stehen dann oft an der Tagesordnung um zu beweisen, dass man gar nicht so viel isst. Dazu kommen oft Witze über Mehrgewichtige um sich zu schützen oder zieht sich vielleicht völlig aus der Gesellschaft zurück, weil man sich schämt ins Fitnessstudio zu gehen, Yoga zu machen oder Schwimmen zu gehen. Diskriminierungen gibt es an jeder Körperecke und die will man natürlich vermeiden.
Die Folgen sind für Psyche und Körper fatal. Selbst von Fachkräften werden Betroffene oft nicht ernst genommen: Bei der Ernährungsberatung oder auch in ärztlichen Untersuchungen, wird das Körpergewicht fokussiert, mit Vorurteilen überlagert und vorhandene Beschwerden nicht ernst genommen. Abnehmen ist der erste Ratschlag und dabei wird nicht bedacht, dass Abnehmen so viel gefährlicher ist als ein bestimmter Gewichtsbereich. Das Gewicht wird immer mit falscher Ernährung und mangelnder Bewegung verbunden, eine Katastrophe da es tausend Gründe für ein bestimmtes Gewicht gibt. Das wissen Fachkräfte und doch agieren wir nicht nach diesem Wissen. Wir sollten viel sensibler mit Sprache sein und uns die Frage stellen, welche Message man mit gewissen Aussagen verbreitet.
Worauf glaubst du, sollte bei der Gesundheit der eigentliche Fokus liegen?
Ganz klar auf gesunden Verhaltensweisen. Es ist viel wichtiger, dass man Freude an der Bewegung habe, lachen kann, die Freizeit genießen, etwas tut was einem Spaß macht, man abschalten kann oder Freude im Umgang mit essen und Bewegung hat. Denn Sport zu machen um abzunehmen führt zu mehr Stresshormonen als man denkt und dann ist der Outcome überhaupt nicht positiv, sondern sogar negativ.
Macht man sich ständig über gesunde Ernährung Gedanken, nimmt das viel zu viel Raum ein und essen wird etwas Negatives. Auch das ist doch nicht gesund.
Was ist deine Meinung zum BMI?
Ich sehe den BMI sehr sehr kritisch. Als klinische Psychologin, die auch mit Essstörungen zu tun hat, ist mir aber klar, dass wir in der Medizin etwas brauchen um das Gewicht schnell beurteilen zu können. Wir müssen eine Grenze festlegen ab derer wir zum Beispiel erkennen, dass ein Mädchen oder eine Frau in einen gesundheitsgefährdenden niederen Gewichtsbereich kommt. Dann müssen Maßnahmen ergriffen werden. Personen mit Essstörungen empfinden ihr Gewicht ja nicht als zu niedrig. Dh ExpertInnen brauchen einen Referenzwert. Das Gleiche oft mit alten Personen die pflegebedürftig sind. Diese können oftmals keine Symptome oder Beschwerden ausdrücken, weil sie sie nicht wahrnehmen. Und da jedes Mal aufwendige valide und zuverlässige Untersuchungen in die Wege zu leiten – darauf ist unser Gesundheits- und Medizinsystem einfach nicht ausgelegt. Uns fehlt Personal und Geld. Daher denke ich, dass solche Werte praktisch sind aber der BMI, der nur auf Gewicht basiert ist mir hier einfach zu wenig. Darüber hinaus, darf so ein Wert keinen Status eines „Gottes“ unter den Gesundheitsmarkern einnehmen.
Jetzt wisst ihr, warum Begriffe wie Über- und Untergewicht problematisch sind!
Danke für die tolle Aufklärung, liebe Cornelia!
Für all jene, die sagen „das ist toll was die sagt, ich möchte mich inspirieren lassen oder ein intuitives und achtsames Essverhalten und/oder ein positives Körpergefühl erlernen“, die können gerne auf ihrer Website www.achtsam-essen.at vorbei kommen. Dort gibt es alle Infos zum Podcast, dem ACHTSAM ESSEN Kurs, den Retreats und bald gibt es dort auch Informationen zu meinem Buch, das dann im Januar 2022 erscheinen wird.
Schaut gern mal bei ihrem Instagram Account @cornelia_fiechtl vorbei! Sie postet dort regelmäßig zu den Themen rund um Ernährung und Körperbilder!
Welche Begriffe sind denn nicht problematisch?
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Zum Beispiel dick oder dünn? Viele glauben, dass “dick” beleidigend ist, weil es früher oft als Schimpfwort genutzt wurde, aber das ist es natürlich nicht!
Allerdings finde ich, dass man (wenn es nicht gerade um gesundheitliche Aspekte geht), einen Menschen generell nicht immer nach dem Gewicht beschreiben muss!
Liebe Grüße!
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Ja, das liebe Thema mit dem Essen und der Gesundheit und der Gesellschaft und der (Lebensmittel)Industrie)…. Amüsanterweise, weiß ja eigentlich fast jeder in der Theorie, wie gesundes Essen funktioniert, nur wird uns das ja durch Arbeit (Mein Mann war bei der BW, was der innerhalb von kurzer zeit verputzen konnte, da hatte ich h die Gabel gerade drei Mal angesetzt^^) Wechselschichten/Nachtschichten, Zeitdruck, Fertigprodukte… Da wir glaube nie gelernt haben, und mal ernsthaft mit dem Essen zu beschäftigen (alles was ich aus meinem Hauswirtschaftsunterricht noch weiß ist, wie man abwäscht und irgendwas mit Mehl^^). Ich habe erst seit ich mit Intervallfasten begonnen hatte angefangen mich mit dem Essen welches ich also in den 8 std zu mir nehme und nahrhaft und sättigend ist, zu beschäftigen. Dann kam ich zur TCM und da habe ich nun meinen Weg gefunden, der im Grunde seit 3000 Jahren schon weiß wie man richtig isst^^ Wir habens hier nur „vergessen“ 😉
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Da stimme ich dir zu! Wir essen jeden Tag, aber wir beschäftigen uns viel zu selten konkret damit!
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