Egoismus – Therapiestunde #3

Im Laufe meiner Therapiesitzungen gab es eine große Anzahl an Themen, über die wir im Laufe der 50 Minuten diskutierten. Wir studierten meine Charakterzüge und überlegten, warum sie für meine Krankheit beeinträchtigend waren. Es gab demzufolge ein Handlungswesen, auf welches wir immer wieder zu sprechen kamen.

Egoistisch.

Meine Therapeutin sprach es aus und fragte mich, ob ich mich damit identifizieren würde. Ich verneinte die Antwort. Ich war nicht egoistisch, im Gegenteil, ich hatte schreckliche Angst davor, egoistisch zu sein. Manchmal schlichen sich egoistische Gedanken in meinen Kopf, die ich schnell wieder abwehrte.

Beispielsweise wenn es darum ging, dass meine Freundin im Restaurant mit an meiner kleinen Vorspeise naschte und für mich weniger übrig war. „Sei nicht so egoistisch“, ermahnte ich mich dann im stillen und ließ sie weiter essen.

Oder aber wenn meine Schwester mich fragte, ob sie meinen neuen Pullover ausleihen wollte, ich ihn aber selbst noch nicht getragen hatte. „Sei nicht so egoistisch“, sagte ich zu mir selbst und gab ihn ihr.

Selbst wenn es darum ging, ob ich die Bio Eier kaufen sollte, oder die günstigeren, entschied ich mich für erstere, um nicht egoistisch zu sein. Nicht nur, weil es ethisch und ökologisch sinnvoller wäre.

„Was bedeutet für Sie Egoismus?“, fragte sie mich. „Beschreiben sie doch einmal den egoistischsten Menschen, den es gibt.“

Ich überlegte. Egoistisch war jemand, der ausschließlich an sich dachte. Jemand ohne Moralempfinden und einer Gleichgültigkeit gegenüber anderer. Ein Egoist war emotional kalt und distanziert, sprach nur über sich, war selbstsüchtig und selbstverliebt. Er oder sie war außerdem rücksichtslos, stand im Mittelpunkt und auch voller Vorurteile. So beschrieb ich den egoistischsten Menschen auf der Welt. Und ich wollte niemals so sein.

Anschließend sollte ich den gütigsten aller Menschen beschreiben. Ich definierte demnach das genaue Gegenteil von einem egoistischen Menschen. Ein gütiger Mensch war selbstlos und zuvorkommend. Er oder sie war liebevoll, sanftmütig, einfühlsam, dachte ausschließlich an andere und hatte ein starkes moralisches Empfinden. Er oder sie war wertschätzend, geduldig, tolerant und vorurteilsfrei.  Durch und durch ein guter Mensch, ohne schlechte Angewohnheiten.

Doch während ich darüber nachdachte, fiel mir ein, dass auch dieses Ideal seine Kehrseiten hatte. Denn ein gütiger Mensch wurde oft ausgenutzt. Dadurch dass er oder sie sich immer anpasste, kamen seine oder ihre Wünsche zu kurz. Er gab immer alles, ohne das Gleiche zurückzubekommen. Auch so wollte ich nicht sein.

Wir hielten also fest, dass beide Extreme nicht perfekt waren. Sie (die Therapeutin) beharrte darauf, dass es mit meiner Gesundheit nicht besser werden würde, wenn ich nicht ab und zu auch an mich dachte. Und dies bedeutete, ein wenig egoistisch zu werden. Nur ein wenig. So viel, dass es mir selbst gut täte und ich nicht zu kurz käme.

Auf einem Tafelbild schrieben wir links die Stichpunkte eines gütigen Menschen und rechts die eines egoistischen auf. In der Mitte erstellten wir dahingegen eine dritte Kategorie. Die goldene Mitte. Der Mensch, der ich werden sollte.

Die gesunde Mitte beschrieb demnach als einen Menschen, der versuchte gut zu sein, aber nun mal ein Mensch war. Jemand, der Kompromisse einging, um sich nicht zu schaden, aber nicht automatisch schlecht war. Der gesunde Mensch war überwiegend interessiert und rücksichtsvoll, aber nur wenn er oder sie gerade konnte. Es war nicht schlimm, wenn sich ein schadenfrohes Gefühl oder ein Vorurteil  in den Kopf erschlich. So waren Menschen nun mal – nicht perfekt.

Mit diesem Tafelbild erfuhr ich zum ersten Mal wie sensibel ich auf den Egoismus reagierte und wie sehr ich mich vor ihm fürchtete. So sehr, dass ich ihm weitestgehend aus dem Weg ging und jeden Anflug von Eigennutz als schlecht empfand. Und dies trieb mich mit vielen anderen Faktoren zu einem unausgeglichenem Gefühlsleben, einem enormen inneren Druck und einem radikalen Ventil, welches ich Essstörung nenne.

Nach vielen weiteren Sitzungen entschied ich mich dazu, den Egoismus mal auszutesten. Ich nannte ihn Eigenliebe, um besser damit klar zu kommen. Und bei dem nächsten Aufeinandertreffen mit meiner Freundin, sagte ich ganz bescheiden, dass ich enormen Hunger hätte und wir uns ja eine größere Portion bestellen und teilen könnten. Doch sie verstand den Wink, lehnte freundlich ab und bestellte sich eine eigene Vorspeise .

Als meine Schwester mich beim nächsten Mal nach meinem Oberteil fragte, schüttelte ich den Kopf, worauf sie ein „Boah, du Egoistin“ stöhnte. Auch das schmerzte mit der Zeit immer weniger.

Und die Eier…Ja, die werden nach wie vor Bio gekauft. Trotz meines Studentengehalts spielt dort viel mehr als der Egoismus seine Rolle. Ethik, Gesundkeit, Nachhaltigkeit…

Es wird sich nicht alles ändern können. Und ich glaube oder hoffe, dass immer  ein wenig mehr Güte, als Egoismus mein Wesen charakterisieren wird. Doch die Integration der Eingenliebe, welche nun Teil meines Kosmos ist, lässt sich durch nichts auf der Welt ersetzen.

So verabschiedete ich meinen irrtümlichen Glaumen des Egoismus aus meinem Leben. Allmählich. Am Ende bin ich noch lange nicht, doch ich habe eine neue Perspektive erschaffen, die mir ein unglaubliches Lebensgefühl gibt. ♥

 

5 Kommentare zu „Egoismus – Therapiestunde #3

  1. Ich finde mich oft in deinen Texten wieder… immer wenn ich mich bei egoistischen Gedanken ertappe verbiete ich mir diese, ähnlich wie du es getan hast. Ich habe sehr hohe, ja zu hohe moralische Ansprüche an mich und setze mich viel zu sehr unter Druck. Dein Beitrag zeigt mir, dass ich mich auch mal mit meinem Verständnis von Egoismus auseinandersetzen sollte. Also bedanke ich mich für diesen Gedankenanstoß und freue mich, dass deine Therapeutin dir in diesem Punkt den richtig Weg gewesen hat und du nun lernst mehr auf dich zu achten und auch mal etwas für dich einzufordern 🙂 lg

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    1. Das ist ein unglaublich nettes Kompliment! Du solltest dich auf jeden Fall mehr damit auseinander setzen – man bekommt so viel mehr Lebensqualität, wenn man auch mal an sich denkt. Und es ist nicht egoistisch, sich selbst auch mal in den Vordergrund zu stellen:)

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