Es ist ein altes Lied – irgendwer beschwert sich über jemanden. Die Frisur, das Outfit, die Beziehung, das Auto. Wir nennen das Lästern, Pöbeln, Beschweren oder ganz unschuldig „Kommentieren“. Aber wie viel haben diese Schuldzuweisungen und Vorwürfe eigentlich mit uns selbst zu tun?
Den Impuls zu diesem Beitrag hat mir das Buch gegeben, das ich gerade lese. Ich stolperte über eine Passage, in der der Protagonistin klar wird, dass sie die Person, über die sich sich immerzu beschwert, in Wahrheit bewundert, weil sie genauso mutig wäre wie sie. Ich las diesen Absatz mehrmals und dachte dann über mein eigenes Leben nach. Wenn ich schlecht über jemand anderen rede, denke ich nicht automatisch, dass es etwas mit mir zu tun haben könnte. Zum Beispiel, wenn ein Mann im Bus breitbeinig vor mir sitzt, den ganzen Platz einnimmt, laut redet und mich dumm anstarrt. Kann ich gar nicht leiden! Und bewundern? Von wegen!
Oder vielleicht doch?
Bewunderung oder Projizierung?
Bewundere ich ihn für sein Selbstbewusstsein, dass er sich als Mann so laut und breitbeinig und einnehmend sein kann, wie ich es als Frau niemals könnte? Nun, bewundern, vielleicht nicht, aber Frust darüber empfinden, wie unterschiedlich Männer und Frauen sozialisiert sind und wie unbeschwert das Leben als Mann sein kann, schon. Vielleicht geht es auch gar nicht so sehr um Bewunderung, sondern die Projizierung anderer toxischer Männer in meinem Leben, die mit ihrer breitbeinigen und lauten Art befremdliche Gefühle in mir auslösen. Aus diesem Gesichtspunkt hat das Erlebnis dann doch etwas mit mir zu tun.
Ein anderes Beispiel:
„Sie ist viel zu dick geworden!“
Diesen Spruch habe ich neulich von einer Freundin gehört. Wir sprachen über eine Bekannte und kamen dann auf ihr Gewicht zu sprechen. Meine Freundin schien empört darüber zu sein, wie viel Gewicht sie in kurzer Zeit zugelegt hatte. Natürlich war es auch mir aufgefallen, aber ich enthielt mich eines Kommentars, weil ich es erstens geschmacklos fand, und zweitens die Bekannte depressiv und essgestört war (das wusste meine Freundin aber nicht). Meine Freundin ist selbst etwas dicker und hadert seit Jahrzehnten mit ihrem Gewicht. Noch während sie sich über die Bekannte auslies, wusste ich, dass ihr „Gemecker“ nichts mit der Bekannten, sondern mehr mit sich und ihren eigenen Komplexen zu tun hatte.
Manchmal tun wir Menschen das. Wir projizieren unsere Normen und Werte auf andere. Auch ich erwische mich immer wieder dabei. So ist es auch mit vielen alltäglichen Momenten (Kleidung, Frisuren, Reisen, Beziehungen), die wir kaum noch wahrnehmen.
Schuldzuweisungen und Vorwürfe – Wie viel haben sie eigentlich mit uns selbst zu tun?
Nicht alles lässt sich generalisieren, aber ich würde sagen, dass wir viele Dinge verurteilen, weil wir etwas Persönliches damit verbinden. Es muss nicht immer Bewunderung sein, es kann auf jede andere intensive Emotion zutreffen. Eine unangenehme Person, an die wir uns erinnern, ein Komplex, den wir nie abgelegt haben, vielleicht sogar Neid, den wir in Wahrheit empfinden. Wie bereits gesagt – wir projizieren.
Gefühle annehmen und loslassen
Für unseren Seelenfrieden ist es immer besser, den Ursachen für das, was uns belastet, zu kennen. Hat dieser Grund etwas mit uns selbst zu tun, wäre der richtige Ansatz vermutlich der, an uns selbst zu arbeiten, und nicht anderen mit Schuldzuweisungen und Vorwürfen gegenüberzutreten. Vielleicht gelingt es uns in der Zukunft sogar weniger Wut zu empfinden und seltener mit dem Finger auf jemanden zu zeigen.
Was haltet ihr von der These, dass Schuldzuweisungen und Vorwürfe auf andere in Wahrheit etwas mit uns zu tun haben?
PS.: Übrigens heißt das Buch, das ich gerade lese, Der nächste beste Schritt (affiliate Link – Werbung) von Jule Piper. Für alle Menschen, die einen Neuanfang wagen wollen, kann ich es wärmstens empfehlen! Es ist so schön realitätsnah und gefühlvoll! ♥
Ich halte sehr viel von deiner These – oft ist es ja so, dass diese Schuldzuweisungen nur Ausdruck von Neid, Angst oder eigener Unzulänglichkeit sind.
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Ja so ist es!!
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Hallo Mia!
Ich habe mich mit dem Thema vor langer Zeit beschäftigt – auch aufgrund eines Buches. Mit der darin beschriebenen These konnte ich ganz viel anfangen!
Das Buch heißt „das Spiegelgesetz“. Vereinfacht geht es darum, dass man auf die Punkte, die man bei sich selbst verdrängt oder sich selbst nicht zugesteht, bei anderen besonders anspringt.
Wenn man also (um bei deinem Beispiel zu bleiben) sich selbst nicht so viel Platz zugesteht, wie man eigentlich gerne hätte, ärgert man sich über andere, die viel Raum einnehmen. Oder wenn ich mir selbst keine Pausen gönne, bin ich wütend auf Kollegen, die ich immer wieder beim Kaffee sehe.
Ich konnte damit sofort ganz viel anfangen und gut damit arbeiten. Es geht um die eigenen Schattenseiten, die andere uns spiegeln und die uns dadurch tief berühren.
lg, Maria
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Dieses Buch klingt total spannend, liebe Maria! Das werde ich mir gleich mal notieren! Auch ich kann mich darin sehr gut wiederfinden. Danke für diesen Impuls! Liebe Grüße!
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