„Was weiß schon die mit der schlanken Figur?“

„Als ob – du hast doch den perfekten Körper! Warum solltest du Komplexe haben?“

Neulich führte ich ein intensives Gespräch mit einer Arbeitskollegin.

Sie sprach offen über ihren Kummer, dass sie in den letzten Jahren sehr viel zugenommen hatte und unermesslich unwohl fühlte. Sie erzählte offen von ihrem verzweifelten Weg durch verschiedenen Diäten und dem Teufelskreis, in dem sie steckte. Mir brechen Worte wie diese immer das Herz. Ihr war nicht klar, wie sehr ich ihre Gefühle verstehen konnte.

Nach einer Weile traute ich mich, sie vorsichtig zu fragen.

Ich versuchte ihrem Unwohlbefinden auf den Grund zu gehen und fragte, warum sie überhaupt abnehmen wollte. Sie antwortete daraufhin, dass sie es für niemanden, als sich selbst täte. Ich fragte sie erneut warum. Warum „sie selbst“ abnehmen wollte. Was anders in ihrem Leben wäre, wenn sie dreißig Kilo leichter wäre. Ob sie dann noch humorvoller, noch sympathischer oder noch charmanter wäre.

An ihre Antwort erinnere ich mich nicht. Aber damit fingen wir an, uns in einem unaufhörlichen Kreis zu drehen, der ausschließlich vom Abnehmen handelte. Zwischendurch wurde es skurril und sie fragte mich, ob ich an Fettabsaugung glaubte, oder ob es was bringen würde, sich den Magen zu verkleinern. Irgendwann lenkte sie auf mich ein.

„Schau mal, du hast alles. Ein schönes Gesicht und eine tolle Figur.“Ich schüttelte nur den Kopf, weil sie nicht im Geringsten wusste, wie meine Wahrnehmung zu meinem Körper war. „Alle Menschen haben Komplexe“, versuchte ich ihr zu erklären.

„Warum bitte solltest du Komplexe haben?“ Ihre Stimme wurde schärfer und bestimmter. Dies schüchterte mich ein bisschen ein, worauf ich anfing zu stottern. Wörter wie „meine Haut“, und „Speck am Bauch“, kamen zusammenhanglos raus. Doch sie verdrehte nur die Augen. In ihren Augen war ich vermutlich das verwöhnte Mädchen, dass wegen ein paar Wehwehchen nörgelte.

Ich gab trotzdem nicht nach und versuchte ihr zu erklären, wie wichtig es war, glücklich im Leben zu sein, jenseits von Diäten und Fitnesscentern. Und wie viel Lebensqualität es mit sich brachte, ein tolles Essen wirklich zu genießen.

Sie sprang jedoch erneut zurück zu mir und stellte Fragen darüber, ob alle in meiner Familie so „dünn“ wären, ob ich einen schnellen Stoffwechsel hätte, und ob ich viel Junk Food aß. Ein Satz traf mich besonders: „Ach, das verstehst du nicht, du kannst eh so viel essen, wie du willst.“

„Ich habe eine Essstörung!!!„, hätte ich am liebsten laut gerufen. Ich weiß sehr viel von dieser Krankheit, ich bin seit Jahren darin gefangen. Aber sie sah nur meine Figur und schenkte meinen Ratschlägen daher keinen Glauben.

Einer schlanken Frau glaubt man nicht, wenn sie sagt, dass sie die ganze Nacht Essen in sich hineingestopft hat.

Ich bin wohl zu dünn für eine Essanfallstörung. Und ich bin sicher zu dick für Magersucht. Ergo bin ich in den Augen der Allgemeinheit sicher „normal“. Und jemand „normales“ ist scheinbar nicht krank.

Nach der Arbeit dachte ich noch lange über unser Gespräch nach.

Ich fühlte mich hilflos, weil ich durch mein über Jahre erlerntes Wissen nicht einsetzen konnte. Es frustrierte mich sehr, dass sie meine Worte nicht annahm. Wie kann ich bloß jemandem helfen, wenn die Menschen nicht den Rat einer schlanken Person annehmen wolle?

Nehmen wir Ratschläge nur von Menschen an, dessen Narben der Schlacht sichtbar sind und für einen Kampf sprechen?

Glaubt die Allgemeinheit nur das, was sie sieht? Ist es fatal zu denken, dass nur weil man eine Essstörung bei mir nicht sieht, ich sie automatisch nicht habe? Und selbst wenn ich keine hätte, könnte ich nicht trotzdem empathisch genug sein, um eventuell doch einen guten Rat zu wissen?

Aber um fair zu bleiben, weiß ich natürlich nicht, wie es ist, übergewichtig zu sein.

Deshalb weiß ich auch nicht, wie sehr es nerven kann, wenn irgendwelchen „dürren Weiber“ ihnen etwas von gesundem Lebensstil erzählen wollen. Aber was sie nicht wissen, ist, dass meine Wahrnehmung eine andere ist. Ich schaue in den Spiegel und sehe eine übergewichtige hässliche Person. Ich schaue in die Augen der Person, die voller Scham ihr Geheimnis vor der Öffentlichkeit zurückhält und ungesunde Methoden gefunden hat, um ihr Gewicht aufrecht zu halten.

Meine Arbeitskollegin wird mich leider nicht loswerden. ich werde weiterhin versuchen, mit ihr darüber zu reden. Falls sie meine Ratschläge nicht annehmen möchte, dann versuche ich ihr wenigstens eine gute Zuhörerin zu sein, vor der sie offen sprechen kann. Denn irgendwas muss man schließlich tun, oder? ♥

9 Kommentare zu „„Was weiß schon die mit der schlanken Figur?“

  1. Der letzte Absatz Deines Eintrages ist so unfassbar wunderbar, so großartig, dass er mich fast umhaut. Ehrlich liebe Mia.

    Ich „kenne“ Dich ja inzwischen so ein bisschen, und ich BEWUNDERE Deine Kraft, Deine Entschlossenheit, Deine eigene Krankheit bekämpfend aber nie in den Mittelpunkt stellend andere Menschen in ihrem Kämpfen zu unterstützen, obwohl Dir das ganz sicher manchmal sehr nahe geht, weil es Deine eigene Befindlichkeit stark berührt, es Dich herausfordert, Dich wieder mit eigenen Zweifeln und Fragen auseinander zu setzen. – Du wirst sagen, dass das ja auch gut ist. Ja, das mag sein. Aber es gehört, so sehe ich das jedenfalls eine sehr große Stärke dazu, eine sehr große Reife. (Das Wort klingt immer ein bissel blöd, aber es trifft hier im besten Sinne seiner Bedeutung zu.)

    Wie schön Du das geschrieben hast:

    „Meine Arbeitskollegin wird mich LEIDER nicht loswerden.“ – Ich musste so sehr auifrichtig lächeln als ich das las.

    Mit einem großen Dankeschön an Dich, weil auch mir dieser Eintrag, Deine Haltung, so viel gibt, lasse ich Dir ganz viele und ganz liebe sternflüsternde Grüße hier!

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    1. Wie lieb von dir! Freut mich sehr, dass du meinen Text auf diese Weise aufgefasst und verstanden hast! Obwohl ich nicht nach Anerkennung, sondern mehr nach Anhörung suche, freut es mich dennoch mehr als erwartet, wenn meine Worte bei anderen Einklang und Sympathie finden!
      Viele liebe Grüße!!

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  2. Das einem eine Krankheit nicht unbedingt anzusehen ist, ist nichts außergewöhnliches. Mir sieht bestenfalls ein geschulter Arzt oder Therapeut an, das die Depression in mir haust. Als könnten depressive Menschen nicht auch mal lachen oder Humor haben. Auch meine Fähigkeiten werden von vielen Menschen falsch beurteilt, als müsste man automatisch dumm sein, bloß weil im Hirnstoffwechsel was nicht stimmt. Oft höre ich, „du hasts doch gut“ was gewissermaßen ja auch stimmt, doch kann ich es eben oft nicht erkennen, weil die Depression es nicht zulässt. Es ist einfach ein Problem, weil psychische Erkrankungen so unsichtbar sind. Was deine Kollegin angeht, bleib da ruhig dran. Solange Du das kannst. LG

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    1. Da hast du so recht! Man kann es auf jede seelische Krankheit beziehen, die nicht sichtbar ist. Dass viele nicht empathisch darauf reagieren, ist sehr traurig. Andererseits gibt es auch welche, die im selben Boot sitzen und sehr wohl etwas verstehen. Ich hatte den Eindruck, dass ein ungesunder Umgang mit dem Essen mit nicht angesehen und dementsprechend auch nicht anerkannt wird – das war sehr schade!
      Liebe Grüße!

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  3. Es gab vor einer Weile ein ganz gutes (fand ich) Video dazu, wo Menschen mit einer Essstörung erzählen wie sie sich fühlen, wenn man ihnen sagt dass man ihnen das ja gar nicht ansähe ( https://youtu.be/hOZ7-H3cVcI CN für Essstörungen – es werden auch weitere Videos zu spezifischen Störungen als Empfehlung angezeigt).

    Die Leute denken immer, wenn man ihrem (internalisierten) Schönheitsideal entspricht, müsse ja alles gut sein. Wenn die wüssten :/. Bei mir war es etwas anders, aber ich war mein halbes Leben lang untergewichtig, immer haarscharf an einer stark ausgeprägten Essstörung vorbei. Wenn ich was davon gesagt habe, dass ich gerne zunehmen würde (z.B. weil mir Energie fehlte) bekam ich immer nur zu hören „Ach, DAS Problem hätte ich auch gern“. Leute verstehen gar nicht, wie verletzend und entmutigend das ist…

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    1. Das kann ich sehr gut verstehen. Man möchte nicht als hochmütig gelten, wenn man seine aufrichtigen Bedürfnisse teilt. Jeder hat seine eigenen Probleme und was schlimmer ist, lässt sich kaum definieren. Ist es „einfacher“ zunehmen, als abnehmen zu wollen? Nein, sonst wäre es ja keine ernste Herausforderung.
      Danke für das Video! Ich schaue es mir gleich mal an!

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  4. Ich verstehe Dich sehr gut, denn ich kenne solche Gespräche. Früher war ich sehr dünn und wurde von Leuten richtig angefeindet, wenn ich mir wünschte zuzunehmen oder viel aß. Dann kam das Zunehmen und die Bulimie, immer noch thematisierte und thematisiere ich das Thema Essen sehr oft und kassiere dafür jedes Mal böse Bemerkung, weil ich ja froh sein kann.
    Froh sein über was? Meine 5 kg zu viel? Meine unkurvige Figur? Mein dummes Gesicht? Keiner versteht wie ich mich sehe und fühle. Mir wird immer vermittelt, dass ich mich nicht beschweren, so wie dir scheinbar auch. Aber damit bringt man Leute mit einem echte/ Problem zum Schweigen :/

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  5. Liebe Mia,
    du be-schreibst hier unglaublich gut und treffend. Beim Lesen musste ich vor mich hinnicken. Ich finde die Situation unglaublich traurig. Es ist so schade, dass deine Kollegin vor lauter Vorurteilen gar nicht mehr sieht, wer ihr gegenüber sitzt und dass sie dich dabei so verletzt.
    Deinen Wunsch helfen zu wollen kann ich gut nachvollziehen. Pass dabei aber auch auf dich auf. Überleg dir immer wieder, ob nicht eigentlich du ein Stück Rettung brauchst und hör dir auch selbst zu. Es ist nicht ok, wenn Menschen, wie deine Arbeitskollegin, über deine Grenzen gehen! Da darfst du für dich auch ein Stop ziehen.

    Liebe Grüße,
    Sofie

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    1. Das ist ein wichtiger Punkt, den du anmerkst, liebe Sofie! Man sollte nicht über deine Grenzen gehen und sich damit selbst schaden! Aber mit der Heilung bin ich insoweit fortgeschritten, dass ich mittlerweile darüber schreiben und auch reden kann. Ich sehe das auch als einzige Möglichkeit, mit den Vorurteilen irgendwann abzuschließen!

      Danke für deine Worte und liebe Grüße!

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