Bei einer Grippe rät uns jeder, zum Arzt zu gehen. Wir folgen der Anweisung und fühlen uns nicht schlecht dabei. Aber was, wenn das Klagen seelisch ist? Was, wenn wir zur Therapie gehen? Und wieso schämen wir uns nach wie vor für unsere psychischen Krankheiten?
Jeden Montag habe ich Therapie. Ich bin froh, dass ich endlich einen Platz gefunden habe und bin im Großen und Ganzen auch zufrieden. Nur der Weg dorthin ist immer etwas unangenehm…
Der Eingang zu meiner Therapie ist nicht gerade diskret!
Und mit „nicht diskret“ meine ich, dass das Wort Psychotherapie als großes Schild über der Tür prangt. Jede/r, die/der mich davor sieht, weiß, dass ich eine Psychotherapie mache. Ich fühle mich deshalb immer etwas unbehaglich, wenn ich auf das Klingelschild drücke, und es eine Weile dauert, bis ich die Tür geöffnet wird. Manchmal ducke ich mich sogar, um mein Gesicht nicht erkennen zu lassen. Dabei gibt es in dieser Gegend niemanden, der mich kennen könnte. Ich verstecke mich vor Fremden. Ich verstecke mich vor Verurteilung.
Ich weiß selbst, wie absurd das ist, schließlich sitze ich hier vor meinem Laptop und schreibe unerschrocken über meine Essstörung. Eigentlich gibt es doch überhaupt keinen Grund, sich zu schämen…
Wenn ich wegen einer Grippe zum Arzt gehe, schäme ich mich doch auch nicht, oder?!
Nein! Ich gehe hohen Hauptes in die Praxis, setze mich ins Wartezimmer und kümmere mich um nichts und niemanden. Anders ist es allerdings, wenn es um psychische Krankheiten geht. Da ist es mir plötzlich unangenehm. Und es hat eine Weile gedauert, bis mir klar wurde, warum das so ist.
Ich will nicht verurteilt werden.
Heutzutage gibt es noch zu viele Menschen (einen Großteil meines sozialen Kreises eingeschlossen), die psychische Krankheiten nicht ernst nehmen und Psychotherapien als „Geldmacherei“ erachten. Mit diesen „falschen“ Bildern im Kopf möchte ich ihnen nicht unter die Nase treten, selbst wenn, es Fremde sind. Ich möchte nicht, dass sie mich für schwach oder verrückt halten, denn das bin ich nicht.
Deshalb muss es mir endlich egal sein, was andere von mir denken.
Noch immer ist es mir nicht gelungen, einen „Scheiß“ auf andere zu geben. Noch immer stresst es mich, wenn Menschen ein schlechtes oder ein falsches Bild von mir haben. Durch die Therapie habe ich erfahren, warum es so ist, aber
Ich bin dankbar für meine Therapie.
Ohne meine beiden Therapien stünde ich heute nicht dort, wo ich jetzt stehen würde. Aus beiden (die zweite hat erst seit Kurzem begonnen, ist aber so intensiv, dass sie bereits ihre Wirkung zeigt), habe ich so viel Wissen und Kraft schöpfen können, und unendlich viel über mich selbst gelernt. Die Therapie war meine Krücke, die mir das Laufen erleichtert hatte. Ja, ich bin in Therapie. Und das ist eigentlich was ganz Tolles!
Und morgen, bei der nächsten Stunde werde ich mir große Mühe geben, einfach so durch die Tür zu marschieren und . Übung macht schließlich den Meister, oder?:)
Kennt ihr das Gefühl? Kennt ihr den Moment, zur Therapie zu schreiten und sich dabei und sich paranoid, beobachtet und verurteilt zu fühlen?
Liebe Mia,
Ja. Und wie. Aber im Laufe der Jahre glaube ich zu wissen, weshalb das so sehr in den Köpfen verankert ist.
Und zwar deshalb, weil es Menschen Angst macht, wenn sie etwas nicht verstehen. Und die menschliche Psyche zu verstehen – well, dazu reicht selbst ein Psychologiestudium nicht aus. Wenn Menschen etwas nicht verstehen, dann lehnen sie es ab. Das ist wesentlich einfacher als diese Sache zu hinterfragen. Den Versuch zu wagen, es zu verstehen.
Ich fühle mich oft beobachtet. Gerade wenn es Sommer ist und ich kurzärmlig durch die Gegend tanze, merke ich die Blicke. Oft begleitet von Gesprächen bei denen ich mir jedes Mal denke „ähm… du weißt schon, dass ich dich hören kann?!“. Gleichzeitig bin ich selbst auch etwas voreingenommen, denn wenn ich bei meiner Therapeutin war dachte ich mir jedes Mal, was dort für augenscheinlich normale Menschen im Wartezimmer sitzen. Keine zerschnittenen Arme, kein lebensbedrohliches Untergewicht, sie lächeln und oder lesen.
Vielleicht sehe ich für diese Menschen genauso normal aus wie sie für mich (zumindest wenn meine Ärmel lang genug sind)?
Viele Grüße,
das tupfenkind
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Wow, Danke für deinen Kommentar! Das mit der “Angst vor Fremdem” habe ich damit noch nie so richtig verbunden, aber eigentlich ist das total einleuchtend!! Auch, dass wir selbst, die “Betroffenen” manchmal voreingenommen sind. Ich bin daher der Meinung, dass weiterhin Aufklärung stattfinden muss, damit eben nicht mehr diese Angst vor Dem Fremden herrscht!
Liebe Grüße!
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Ja, das kenne ich. – Hier in „meiner Stadt“, die ja nicht allzu groß ist und in der ich aufgrund meiner beruflichen Tätigkeiten schon mit sehr vielen Menschen unmittelbar zu tun hatte, „kennen“ mich zudem recht viele. Die „Chance“ also, dass mich so jemand am Eingang zu meinem Therapeuten sehen könnte, war also immer recht groß.
Ich bin deshalb sehr oft, sehr vorsichtig und von dem Bestreben geprägt, nur bloß nicht jemanden „Bekannten“ zu treffen, dorthin gegangen. Ebenso unangenmehm war es mir, wenn ich das Gebäude wieder verlassen musste. Ich hörte geradezu Stimmen von Menschen, die mich dabei gesehen hatten: „Schau mal, der war gerade auf der „roten Couch“.
Wenn ich heute nochmals eine Therapie machen müsste, wüsste ich, dass es wieder so oder so ähnlich wäre. Ich habe es nicht geschafft, mit meiner Krankheit wirklich offensiv umzugehen, zumindest nicht nach außen. Zwar habe ich inzwischen auch erfahren, dass es Menschen gibt, die wirklich VERSTEHEN, aber das allgemeine Meinungs- und Erfahrungsbild ist nach meiner Empfindung nach wie vor sehr anders.
Es reicht ja schon, nicht immer ein Lächeln oder eine gewisse Coolnesss und Lockerheit auszustrahlen – wie oft habe ich dann schon zu hören bekommen: „Bist wohl heute mal wieder nicht gut drauf heute, was?“ Oder: „He, mit ’nem anderen Gesicht, würdest Du Dich besser fühlen!“ – Mich machen solche Sprüche traurig und ärgerlich. Auch eine gewisse Ignoranz und Gleichgültigkeit, ein „sich genervt fühlen“ von Dritten glaube ich wahrzunehmen, wenn ich mich nicht zu verstellen schaffe.
Dabei möchte ich niemanden nerven, niemandem zur Last fallen, gerade ganz das Gegenteil.
Manchmal glaube ich, dass psychische Krankheiten andere Menschen besonders abschrecken. Kann das sein?
Ganz liebe Grüße – ich begleite Dich in Gedanken morgen und überhaupt immer hin zu Deiner Therapie. Sehr gern, weil ich weiß, wer und was Du tatsächlich bist und dass DAS zählt! Nur das! 💖
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Danke für deine Worte, lieber sternfluesterer! Ich habe heute an deine und die Worte aller anderen, die ihre Gedanken mir mir geteilt haben, gedacht, und mich auf jeden Fall etwas mutiger gefühlt! Ähnlich wie bei dir war die Paranoia trotzdem ein Teil meines Auftritts, nicht zuletzt die Angst „erwischt“ zu werden! Aber das wird sich hoffentlich irgendwann legen…“Übung macht den Meister“!
Ganz liebe Grüße! ♥️
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Kann ich total gut nachvollziehen!! Geht mir auch ganz ähnlich, auch ich denke jedes Mal: Hoffentlich sieht mich jetzt niemand. Besonders unangenehm ist es, dass ich jetzt immer etwas früher von der Arbeit gehen muss und ich gesagt habe, dass ich dort einen Arzttermin habe. Zum Glück hat mich noch niemand gefragt, was für ein Arzt es ist – das wäre im beruflichen Kontext ja auch unangebracht, schließlich muss ich niemanden etwas sagen – aber falls mal ein/e Kollege/in fragen würde.. Ich glaube dann würde ich lügen. So schlimm das auch ist. Vielleicht würde ich dann sagen, ich gehe zur PHYSIOtherapie, haha. Auch wenn ich möchte, dass die Stigmatisierung aufhört, ist die Angst, es auf der Arbeit zuzugeben und das die Leute dort dann aber über mich negativ reden doch zu groß. Gerade dort verbreiten sich Gerüchte wie ein Lauffeuer. Eigentlich möchte ich es dort auch nicht sagen, es geht niemanden etwas an. Damit rechtfertige ich meine Lüge, falls ich denn jemals auf sie zurückgreifen muss.
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Ich verstehe deine “Notlügen” 🙈 Bei mir ist es auch immer nur der “Arztbesuch”! Aber ich glaube, dass man sich da nicht schuldig fühlen muss, schließlich ist der Hauptgrund der, das man Angst davor hat, verurteilt zu werden. Wäre die Welt eine andere, würde es vermutlich anders sein. Ich glaube und hoffe auch, dass sich im Laufe der Jahre ändern wird!
Danke für deinen Kommentar! 🙂 liebe Grüße!
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Ich kenne diesen Gedanken in Ansätzen irgendwie auch, aber ich habe mir inzwischen überlegt, dass jemand der zur Therapie geht damit nicht nur zeigt, dass er das eine oder andere Issue hat, er zeigt auch noch etwas anderes, meines Erachtens viel wichtigeres: er zeigt, dass er ehrlich zu sich selbst ist und etwas dafür tut, dass es ihm besser geht.
Ich kenne ein paar Leute, die sind felsenfest davon überzeugt, dass sie nie eine Therapie brauchen werden und sie sind stolz darauf. Bei all diesen Menschen habe ich Phasen miterlebt, in denen ihre eigenen Unsicherheiten dazu geführt haben, dass sie und/oder ihr Umfeld einiges abkönnen mussten. All diesen Menschen – und den Menschen in ihrem Umfeld – würde es m.E. gut tun und vieles erleichtern, wenn sie eine Therapie machen würden und die – zwar irgendwie noch erträgliche, aber durchaus vorhandene – Unordnung in ihrem Leben ein bisschen aufräumen und nicht so stiefmütterlich behandeln würden. Ob das per se mit professioneller Betreuung passieren muss, sei mal dahin gestellt, aber ich denke, dass gerade weniger selbstreflektierte Menschen davon schon deutlich profitieren würden…
Insofern: auch wenn ich weiß, dass viele sowas verurteilen: ich bin stolz, dass ich meinen Blog führe und dass ich bereit war, zuzuhören, als der Kuschelmensch sagte, dass er sich überfordert fühlt und er sich wohler fühlen würde, wenn da noch jemand Professionelles drauf gucken würde.
Liebe Grüße 🙂
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