Über meine Kindheit reden – Therapiestunde #1

Ich wollte nie zur Therapie. Nicht dass ich Therapien für sinnlos hielt, ich sah mich einfach nicht darin. Demzufolge war ich natürlich fest davon überzeugt, dass sie anderen helfen würde, aber nicht mir.

Im Folgenden werde ich die Eindrücke meiner Therapie mit unterschiedlichen Themenschwerpunkten festhalten und diese mit euch teilen.

Es war nicht meine Entscheidung, eigentlich wurde ich dazu „genötigt“ eine Therapie zu machen. Nachdem meine Eltern davon erfahren hatten, dauerte es nicht lange, bis ich einen Termin bei einer Praxis hatte.

Meine Erwartungen waren wie gesagt eher gering. Was mich dann erwartete, überraschte mich schließlich und das sowohl bei der „Einrichtung“, als auch beim Stil der Therapie:

Zu den Räumlichkeiten

Ich befand mich in einer Praxis mit auszubildenden Therapeuten. Sie hatten keine Jahre lange Erfahrung, aber sie kamen „frisch“ aus dem Studium, hatten viele moderne Methode und gaben sich viel Mühe. Das Ambiente war sehr schlicht. Weiße Wände, heller Parkettboden, ein kleiner weißer Tisch und zwei Holzstühle. Gelegentlich stand eine kleine Plastikpflanze im Raum aber diese und eine Taschentuchpackung waren die einzigen Accessoires im Zimmer. Ich war nicht enttäuscht, aber fühlte mich auch nicht sonderlich wohl. Wäre es meine Praxis wüsste ich auch nicht so recht, wie ich sie gestalten würde, aber definitiv nicht so. Ich fragte meine Therapeutin einst nach dem psychologischen Grund dieser Einrichtung und sie antwortete, dass der Raum so neutral wie möglich gehalten werden sollte.

Zur Verhaltenstherapie

Es gibt verschiedene Formen von Therapien. Bei mir wurde eine Verhaltenstherapie entschieden. Natürlich hatte ich noch keine Ahnung von Einzelheiten, ich wusste nur, dass die Diagnose Bulimie war und mein persönlich Ziel war, nach der Therapie keine Bulimie mehr zu haben. Sie (die Therapeutin) erzählte mir, dass mein Verhalten quasi umstrukturiert werden würde. Demnach würde mein Verhaltensmuster, das ich erlernt habe auch wieder neu erlernt werden können. Und das würde unter anderem mein Essverhalten einschließen. Das ist jetzt sehr grob formuliert, aber das Essenzielle müsste verständlich sein.

Meine Erwartungen

Ich hatte damit gerechnet, ihr von dem Anfang meiner Essstörung zu erzählen und wir nach und nach Lösungen dafür finden würden, meine Krankheit zu heilen. Ich erwartete  Tipps, wie ich das Essen kontrollieren und mein Selbstbild sich etwas verändern würde. Außerdem wünschte ich mir, selbstbewusster, mutiger und glücklicher zu werden. Ich sollte jedoch gleich am Anfang merken, dass ich auf dem falschen Dampfer saß.

Wir sprachen über meine Kindheit.

Zuerst hielt ich es für einen Scherz. Denn ich sollte alles erzählen. Von meiner ersten Erinnerung an, von meinem Geschwisterverhältnis, von meinem Elternverhältnis und jedes banale Ereignis. Die Aufgabe schien mir zunächst simpel und langweilig. Ich habe ein relativ gutes Langzeitgedächtnis und würde mich zu den Menschen zählen, die traumatische Erinnerungen verdrängen. Das dachte ich jedenfalls.

Denn wie sich herausstellte, gibt es verschiedene Formen des Verdrängens. Ich kann Erinnerungen sammeln, aber meine Gefühle dazu verdrängen. Angst, Schuld, Verlustempfinden und Einsamkeit waren nur einige der Emotionen, die mich in meinem Alltag heimsuchten und mein Essverhalten steuerten.

Mir fiel außerdem etwas anderes auf. Während ich über meine Kindheit sprach, wurden mir viele Dinge klar, die mir vorher nicht bewusst waren. Ich reflektierte mein Leben aus meiner heutigen „erwachsenen“ Perspektive und wurde wütend. Ich wusste immer, dass meine Erziehung etwas konservativer und strenger war,doch es war mir noch nie so bewusst wie in diesem Moment. Damit will ich nicht die Schuld bei der Erziehung meiner Eltern suchen, aber ich möchte mich auch nicht immer zurücknehmen und wieder alles verdrängen. Denn Tatsache ist, dass viele Dinge in der Erziehung dazu führten, dass ich die Essstörung bekam.

Eine ganze Weile lang war ich sehr wütend. Obwohl meine Eltern mir in der aktuellen Zeit nichts getan hatten, konnte ich ihnen nicht unter die Augen treten, ohne gewaltigen Ärger zu empfinden. Und das über absurde Ereignisse, die 20 Jahre zurück lagen.

Die Wut ließ natürlich irgendwann wieder nach. Aber sie half mir vieles zu verstehen und mein Leben auf eine andere Weise neu kennenzulernen. Denn ich sah mein Leben von nun an anders als zuvor.

Das Thema Kindheit wurde in den ersten 5 Sitzungen sehr stark besprochen. Meine Therapeutin war fortan in mein Leben integriert und kannte Geschichten, die nicht einmal meine engsten Freunde wussten.

Nun ja, das waren meine ersten Eindrücke der Therapie: über meine Kindheit sprechen. Und nach jeder Sitzung fragte ich mich: Wie hilft mir das, meine Essstörung loszuwerden??

Ich sollte es später erfahren…

 

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5 Kommentare zu „Über meine Kindheit reden – Therapiestunde #1

  1. Das ist sehr spannend und für mich überaus interessant. Ich habe demnächst meine bis auf Weiteres letzte Therapiesitzung (nach gut drei Jahren fast ununterbrochener Therapie einschließlich Klinikaufenthalt) – Meine Probleme, meine Erkrankung sind eine andere, aber ich glaube, dass es sehr bereichernd für mich sein wird, zu lesen, welche Erfahrungen jemand anderes mit Therapie gemacht hat. Zumal Dein beginn hier ebenso ausführlich wie reflektierend geschrieben ist.

    Dabnkeschön, liebe Mia – dann werde ich also ab heute Deinem Blog gern und mit viel Interesse folgen!

    Übrigens: Ich wollte auch und sehr lange NIE eine Therapie machen …

    Ganz liebe Grüße an Dich!

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    1. Das freut mich sehr, dankeschön! Bei mir ist es bald auch vorbei, zwar nur knapp zwei Jahre, aber auch ein merkwürdiges Gefühl…

      Ich hoffe, dass du einen angenehmen Übergang zu einem Leben ohne Therapie haben wirst. Auch hoffe ich, dass es dir insoweit wieder gut geht, dass du es gut ohne hinkriegst. Und selbst wenn es nicht funktioniert, kannst du dich natürlich jederzeit wieder für eine Therapie entscheiden! Danke, dass du einen Teil deiner Erfahrung mit mir geteilt hast!

      Die Grüße gehen ganz lieb an dich zurück! 🙂

      Gefällt 1 Person

  2. Hallo Mia,
    der Grund meiner Essstörung liegt in meiner Kindheit begraben. Bereits in jungen Jahren war ich bei einigen Psychologen. Aber erst die Therapie in einer Tagesklinik, in der ich einen Lebenslauf schreiben sollte, brachte das ganze Unheil ans Licht. Mir war das bis dato nie bewusst. Ich machte mir darüber keine Gedanken, denn ich war in der Essstörungen gefangen, so dass ich für andere Überlegungen keine Zeit hatte.
    Bis zu diesem besagten Tag, konnte ich keine Wut für meine Mutter (der Grund) empfinden. Der erste Satz meines Lebenslaufes begann: „Meine Mutter brachte mich am (…) zur Welt.“ Die Therapeutin war darüber erschrocken, denn ich ordnete mich selbst beim Schreiben unter.
    Die darauffolgenden Therapiestunden waren teilweise Horror. Vor allem meine erste Gruppensitzung in einer vollstadionären Therapie. Ohne Umschweife fand ein Mutter-Tochter-Rollenspiel statt. Ich brach in dieser Stunde vollkommen entzwei. Aber es war gut, denn ich begann mich von ihr zu verabschieden, auch wenn das weitere schmerzhafte Jahre dauerte.
    Der Schmerz und die Wut, die professionell ans Tageslicht beförderten wurden, ermöglichten mir den ersten Schritt in mein heutiges unbestimmtes Leben. Ich war 30 Wochen in Therapie, danach war Schluss mit therapeutischer Unterstützung, weil mich keiner mit dieser Problematik wollte.
    Auch wenn es schmerzt, es macht Sinn. 🙂
    Ich wünsche dir viel Kraft
    Viele Grüße
    Michaela

    Gefällt 2 Personen

    1. Liebe Michaela, es ist wirklich verrückt, wie man eines Tages etwas sieht, dessen man sich nie wirklich bewusst war. Deshalb finde ich es wichtig, das Leben und seine Erziehung, sowie alles auf der Welt zu reflektieren und zu hinterfragen. Nur so erhält man Antworten und kann sich von seinen engstirnigen Gedanken lösen. Der Weg ist oft sehr schmerzhaft, aber ich fürchte, dass dies der einzige Weg ist.

      Sei ganz lieb gegrüßt! ❤️

      Gefällt 2 Personen

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