Wenn alle immer denken, dass du etwas „nur“ wegen deiner Essstörung machst …

Sich aus einer Essstörung zu befreien, bedeutet auch, sein individuelles Lebens- und Essverhalten zu finden. Leider fällt es vielen Außenstehenden schwer das zu begreifen. Oft glauben sie nämlich, dass ich bestimmte Dinge nur wegen meiner Essstörung mache.

Vorab: Mit diesem Beitrag bewege ich mich auf sehr dünnem Eis. Ich bin dankbar für alle, die sich um mich sorgen und möchte Betroffene keinesfalls dazu animieren, tatsächlich etwas „nur“ wegen der Essstörung zu machen. Diesen Beitrag schreibe ich aus der Position einer noch kranken, aber immer mehr heilenden Person.

Seit mehreren Jahren schon bin ich in Recovery.

Ich arbeite aktiv an meiner Gesundheit und habe viele Fortschritte gemacht. Hier und da hapert es noch, aber mit jedem Tag finde ich meinen eigenen Rhythmus. Allerdings hätte ich nicht erwartet, dass ich während des Versuchs, zu mir zu „finden“ einem „Verhör“ unterzogen werden würde.

„Du isst das doch nur nicht wegen deiner Essstörung.“

Seit mein Alltag nicht mehr von chronischen Essanfällen begleitet wird, esse ich bewusst und nur das, was ich mag. Früher hat es mich kaum gekümmert, was ich in mich hineingestopft habe – Hauptsache süß, fettig, oder kalorienreich. Heute weiß ich, dass es ein paar Dinge gibt, die ich ganz bewusst nicht esse. Ich mag keine süßen Getränke, ich mag keine geschichteten Torten, ich mag keine weiße Schokolade. Ich esse diese Dinge nicht, weil sie nicht gehaltvoll sind, sondern, weil ich sie NICHT mag.

Bei meiner Familie hingegen schrillen sofort die Alarmglocken an.  Lehne ich etwas ab, weil es mir zu“Deftig“ ist, ziehen sie eine Augenbraue hoch. Bestelle ich nur einen Salat, schnappen sie nach Luft.  Ich weiß, dass es nur die Angst ist, die aus ihnen spricht, aber ich weiß auch nicht, wie ich es ihnen „beweisen“ soll, dass ich intuitiv esse und meinen Körper entscheiden lasse, was er essen will.

„Du hast doch gar keine Unverträglichkeit.“

Genauso ist es mit Produkten, die ich nicht vertrage. Durch meine Essstörung ist mein Magen sehr reizbar und sensibel geworden. Viele Produkte, ob kalorienreich oder nicht, vertrage ich einfach nicht mehr. Wenn ich also Gerichte wie Käsespätzle ablehne, dann nur, weil ich von ihnen Bauchweh bekomme. Aber glauben tut das nicht jeder …

„Du machst doch nur Sport, um abzunehmen.“

Die nächste Baustelle ist der Sport. Tatsächlich hat mich die Quarantäne Zeit dazu motiviert, wieder etwas Sport zu machen. Ich hatte schon eine ganze Weile mit dem Gedanken gespielt, war aber immer sehr wachsam, weil ich Angst hatte, in meine Sportbulimie zurückzurutschen.

Doch jetzt jogge ich gelegentlich eine Runde, fahre mit meinen alten Inlinern oder versuche mich an ein paar Sportkursen auf YouTube. Ich mache keine Sport, um abzunehmen – nicht mal, um fit zu blieben! Der Sport ist gerade ein willkommener Zeitvertreib, um an die frische Luft zu kommen und mich zu entspannen.

Wenn das nur alle so sehen würden…In meiner Insta Story vor ein paar Tagen hatte ich bereits eine besorgte Sprachaufzeichnung einer Freundin mit euch geteilt. Eine andere Freundin beäugte mich ebenfalls kritisch, als ich „joggen“ gehen wollte. Sie machten sich Sorgen und ich konnte es ihnen nicht verübeln. Trotzdem war ich frustriert.

Manchmal werde ich nach wie vor von meiner Essstörung gebremst – das gebe ich zu!

Ich bin nach wie vor befangen, was Gerichte meiner Fear Food Liste angeht. Bei den arabischen Gerichten meiner Mutter rattert mein Kopf nach wie vor und manchmal bestelle ich nur eine Kugel Eis anstelle von zwei. Oft entscheide ich mich für die Cola Light statt für die normale – die Zwänge sind nach wie vor in meinem Gehirn gespeichert. Aber ich arbeite daran, mich aus ihnen zu befreien. Ich kann inzwischen unterscheiden, ob ich oder meine Essstörung etwas ablehne.

Eine Essstörung wird niemals vergessen werden. 

Selbst wenn ich eines Tages von mir behaupten werde, dass ich völlig geheilt und symptomfrei lebe, werden meine Mitmenschen weiterhin wachsam sein. Und das ist okay. Frustrierend, aber okay. Jede Sorge ist tausend Mal besser, als das Problem zu ignorieren. Meine Liebsten werden sich ebenfalls einem Lernprozess unterziehen müssen und genau wie ich lernen, mein Lebensstil und Esssverhalten jenseits der Essstörung zu akzeptieren.

Kennt ihr das Dilemma, euch „rechtfertigen“ zu müssen? Könnt ihr auch unterscheiden, ob ihr etwas für euch oder für eure Essstörung tut?

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10 Kommentare zu „Wenn alle immer denken, dass du etwas „nur“ wegen deiner Essstörung machst …

  1. Ich finde das Misstrauen von Anderen sau-frustrierend und werde dann oft sogar wütend. Weil ich mir immer denke: „Leude, was ich hier tue, ist der lebende Beweis, dass ich mir selbst und meinen Instinkten vertraue… Und *ausgerechnet JETZT* sprecht ihr Arschgeigen mir das ab?!“ 😡

    Ich könnt da oft ausrasten. Dann hilft nur der Gedanke, dass die Leute aus Liebe so agieren, und nicht, um mir ans Bein zu pissen- 🤔

    Förderlich ist das ständige Infragestellen natürlich NICHT. Dann möchte ich nämlich sehr schnell gar nix mehr (in Gegenwart anderer) essen. Nur, damit die Kommentare und Blicke mir nicht das Korn verhageln/den Appetit verderben- Insofern ist das Gegenteil von „gut“ hier eindeutig: „gut gemeint“- 😅

    Liebe Grüße! VVN

    Gefällt 1 Person

    1. Oh ja, das glaube ich dir! Das Misstrauen kann einen ja auch wirklich ärgern! Ich denke, dass es für die anderen – auch wenn ihre Sorge lieb gemeint ist – auch ein Lernprozess ist und sie sich an die neue Situation gewöhnen müssen!

      Liebe Grüße!

      Gefällt 1 Person

  2. Mir ging es mit meiner Depression ähnlich, mein Exmann hat all mein Handeln darauf zurückgeführt – auch vor den Kjndern. Das war der Hauptgrund für mich zu gehen.

    Gefällt 2 Personen

  3. In meiner Familie hat es ein paar Jahre gedauert, bis sie sich daran gewöhnt haben, dass ich manche Sachen einfach nicht mag oder just nicht essen möchte, ohne dass das ein Anzeichen für einen „Rückfall“ wäre.

    Hinzu kommt, dass ich mich in Gesellschaft -u.a. auch bei meinen Eltern- bzgl. des Essens eh anpasse, also die meisten Sachen mitesse, obwohl ich mich alleine anders ernähre. Was mich sehr überrascht hat ist, wie viel Rücksicht meine Eltern auf meine Histaminintoleranz nehmen.

    Was noch recht lange genau beobachtet worden ist, war meine Figur. Eben, ob ich womöglich abgenommen hätte. Schön war immer, wenn ich eher zugenommen hatte, und mir meine Mutter beim Wiedersehen unterstellt hat, dass ich abgenommen hätte, nur weil ich etwas weitere bzw. figurschmeichelndere Kleidung anhatte. Oder eben so Kommentare kamen, dass ich ja zu dünn/knochig wäre und an mir was dran müsste, inklusive Anfassen. … Diese äußerst nervig bis frustrierende Angewohnheit haben aber beide so gut wie vollständig abgelegt.

    Ich muss aber sagen, dass ich bei manchen Menschen selbst den Eindruck habe, dass hinter deren veganen oder sonstwie „speziellen“ Ernährung eine Essstörung steht, vielleicht in milder Form. Aber die meisten Menschen haben bei der Ernährung ja einen Hau weg und essen insgesamt zu viel bzw. ungesund, sieht auch das grassierende Problem mit Übergewicht und Unsportlichkeit, eine Minderheit isst wiederum zu krampfhaft gesund. Von daher ist es ja auch wieder normal.

    Gefällt 2 Personen

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