Extremhunger – Ursachen und Bewältigungsstrategien

Fast jede Person mit Essstörung durchläuft die Phasen des Extremhungers. Auch ich kenne sie zu genüge. Mit den Jahren habe ich einige ihrer Ursachen kennengelernt und mögliche Strategien entwickelt, die ich gern mit euch teilen würde.

Kurz vorab möchte ich allerdings klar stellen, dass ich ausschließlich aus meiner Position schreiben kann und meine Worte natürlich nicht allgemeingültig sind. Jede*r hat unterschiedliche Ursachen und braucht unterschiedliche Strategien.

Was ist Extremhunger?

Extremhunger besteht aus zwei Worten, die den Begriff ziemlich genau erklären: ein extremer, unbändiger, nicht aufhörender Hunger, der nach immer mehr Nahrung verlangt und irgendwann die Kontrolle entzieht. Egal, wie viel man isst, man fühlt sich immer noch nicht gesättigt und kann nicht aufhören zu essen.

Ich glaube, es gibt für mich kaum etwas Schlimmeres als Extremhunger – selbst richtiger Hunger ist nicht so schlimm wie das Gefühl, trotz einer großen Mahlzeit nach wie von ein „Loch“ im Bauch zu haben.

Bei mir kam der Extremhunger nach meiner anorektischen Phase. Fast ein Jahr lang hatte ich auf sämtliche Lebensmittel verzichtet, bis mein Körper sie sich irgendwann alle zurückholen wollte. All das, was ich mir die Monate über verbat, konsumierte ich nun in einer Extremform, ohne je satt zu werden. Nicht selten artete es in Binge Eating aus.

Mögliche Ursachen für Extremhunger

Ich unterscheide zwischen zwei Ursachen: körperlichen und psychischen.

Körperliche Ursachen

Extremhunger kann entstehen, wenn dem Körper etwas fehlt. Das können bestimmte Nährstoffe wie Kohlenhydrate, Fette, oder sonstiges sein. Je unausgewogener die Ernährung ist, desto mehr verlangt der Körper danach. Ich ernährte mich zum Beispiel eine lange Zeit ausschließlich Low Carb und hatte zudem starken Eisenmangel. Nach jeder Mahlzeit fühlte ich mich nicht „befriedigt“ genug, hatte zwar keinen Junger mehr, war aber auch nicht satt. In dieser Zeit hatte ich auch eine „Fleisch-Phase„, in der ich unnormal viel Fleisch aß, weil mein Körper nach Eisen und Energie lechzte.

Wenn ihr also das Gefühl habt, dass eurem Körper die ganze Zeit etwas fehlt, würde ich euch raten, zunächst euer Essverhalten unter die Lupe zu nehmen und zu schauen, ob euch ggf. etwas fehlt. Anschließend würde ich vielleicht auch einen Bluttest machen oder mich generell vom Doc abchecken lassen. Vielleicht kann sich eurer Extremhunger bei ausgewogener Ernährung etwas bändigen lassen.

Psychische Ursachen

Noch häufiger allerdings ist Extremhunger das Resultat von seelischem Hunger. Essstörungen sind psychische Krankheiten und die Hintergründe sind es genauso. Wenn ihr mit einer Essstörung esst und das Gefühl habt, dass ihr nicht satt seid, dann seid ihr es auch nicht. Aber Essen wird euch nicht sättigen können. Das kann es nicht.

Meine psychischen Ursachen reichten von einem niedrigen Selbstwert bis hin zu der stetigen Suche nach einem Ventil. Ich aß nicht nur aus Hunger, sondern um jedes Gefühl, das mir nicht behagte, wegzudrücken. Mit der Zeit wusste ich gar nicht mehr anders mit einem Problem umzugehen, als zu essen.

Bewältigungsstrategien von Extremhunger

Viele fragen mich immer wieder nach Tipps, als wäre es nur eine Frage der Strategie mit ein paar Tricks den Extremhunger wieder in den Griff zu bekommen. Dem ist so nicht – leider. Extremhunger ist ein Symptom der Essstörung und Essstörungen gehen auch nicht von heute auf morgen weg. Jede*r der/die sich der Recovery stellt, muss also viel Geduld mit sich haben.

Wie auch alles andere in der Recovery muss alles Schritt für Schritt angegangen werden.

Schritt 1: Keine Scham über Extremhunger

Ich weiß, dass sich sehr viele für ihren Extremhunger schämen und sich verfressen fühlen. Aber das sind sie nicht. Extremhunger ist ein Phänomen, das jedem widerfahren kann (insbesondere denjenigen, die davor eine lange Hungerphase hatten). Der allererste Schritt ist also den Extremhunger als solchen erst mal anzunehmen, ohne sich dafür zu schämen.

Schritt 2: Extremhunger zulassen

Ich weiß, es klingt unlogisch, aber je nachdem welche Ursachen euer Extremunger hat, ist es immer wichtig ihn zuzulassen, als zu verdrängen. Nicht, dass ich das Binge Eating verherrlichen will, aber sich Essen zu verbieten ist auch der falsche Weg. Ich dachte früher, dass ich den Extremhunger „bekämpfen“ könnte, in dem ich einfach aufhörte „Fear Food“ zu kaufen und mich einfach „zusammenzureißen“. Das hat natürlich nicht geklappt. Lasst den Extremhunger also zu und esst.

Schritt 3: Zunahme zulassen

Wenn ihr den Extremhunger zulasst, werdet ihr anfangs vielleicht etwas zunehmen. Aber glaubt mir, wenn ich euch sage, dass es ganz sicher nicht so sein wird, wie ihr es euch vorstellt. Wenn wir an „zunehmen“ denken, haben viele von uns gleich 130 Kilo + im Kopf, was natürlich nicht der Fall ist! Eine Zunahme ist in solchen Fällen also manchmal unvermeidlich, aber trotzdem die einzige Chance, um den Extremhunger loszuwerden. Zum Gesundwerden gehört das Zunehmen ohnehin dazu. Es ist hart, aber geht nicht anders. Wer einfach nur gesund werden will, aber bitte nicht zunehmen will, hat das Konzept noch nicht verstanden.

Schritt 4: Das Sättigungsgefühl wieder zurückerlangen

Falls ihr während eurer Essstörung euer Sättigungsgefühl verloren habt, gilt es das wieder zurückzuerlangen. Auch das ist nicht leicht, wenn der Körper sich irgendwann daran gewöhnt, erst dann aufzuhören, wenn er einfach nur „voll“ ist.

Folgende Tipps haben mir bei der Wiedererlangung meines Sättigungsgefühl geholfen:

  • Überlegt euch vor dem Essen, ob ihr jetzt wirklich aus Hunger esst, oder aus einem anderen Grund (Appetit, Uhrzeit…) Versucht eurer Intuition zu vertrauen und nur zu essen, wenn euer Körper danach verlangt
  • Esst langsam und schmeckt das Essen bewusst (achtsames Essen)
  • Zählt bloß keine Kalorien!
  • Esst ohne Ablenkung (also ohne Fernseher, Handy,…)
  • Esst, worauf ihr wirklich Lust habt und nicht, weil es „nahrhafter“ oder kalorienärmer esst. So vermeidet ihr Futterneid!
  • Richtet euch NICHT nach den Portionen anderer. Für euer Essverhalten ist es wichtig, eure Körperstimme wahrzunehmen und nicht die anderer. Selbst, wenn das bedeutet, dass ihr viel mehr esst als andere.

Alles ist ein Prozess, alles braucht seine Zeit.

Vielleicht hält der Extremhunger eine Weile an, vielleicht hört er irgendwann wieder von selbst auf. Seid in dieser Zeit möglichst nachsichtig mit euch. Der Körper will so viel nachholen, was ihm verweigert wurde und braucht eine Weile, um sich zu rehabilitieren.

Bei mir war es genauso. Nach meiner bulimischen Phase habe ich durch Extremhunger immer mehr gegessen und bin anfangs häufig ins Binge Eating gerutscht. Aber auch das hat irgendwann nachgelassen, indem ich während der Recovery meine „innere“ Wunden versorgt und parallel dazu „äußerlich“ an einem intuitiven, achtsamen Essverhalten gearbeitet habe.

Kennt ihr Extremunger? Habt ihr Strategien dagegen?

Falls ihr mehr darüber erfahren wollt, könnt ihr euch das Video von MutimBauch ansehen!

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12 Kommentare zu „Extremhunger – Ursachen und Bewältigungsstrategien

  1. Ich habe sehr oft Extremhunger 😦 Meine Strategie dagegen: viel Stress und Ablenkung, was anderes hilft bei mir nicht. Baden, Meditieren, Spazierengehen, Yoga… hilft alles nicht, Stress dagegen immer -_-

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      1. Soweit ich weiß, ist das eine der beiden normalen Reaktionen des Körpers auf Stress. Entweder, man bekommt mehr Hunger oder der Hunger fällt weg, bis auch der Stress nachlässt. Dann kommt der Hunger aber meist viel stärker wieder. Hat was mit den Hormonen und Blutzucker zu tun.
        AnorektikerInnen haben häufig dieses „Bei Stress spüre ich den Hunger nicht“, bei BulimikerInnen war es glaube ich relativ gemischt.

        Das „Problem“ bei diesem „vor dem Hunger wegstressen“ ist, dass der Körper ja manchmal auch die Nahrung braucht und erst wieder lernen muss, normal starke Signale zu senden. Vielleicht ist er da wie ein kleines Kind, das total stark quängelt um Aufmerksamkeit zu bekommen, weil es sonst zu lange ignoriert wird..

        Wobei ich mich da nicht raus nehmen möchte – ich stresse mein Hungergefühl auch oft genug weg 😅

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  2. Ich sehe das etwas anders und denke, dass der ein oder andere ehemals anorektische oder bulimische Mensch tatsächlich gefährdet ist, in die nächste Essstörung in Form von Binge Eating zu rutschen, was dann ebenfalls gesundheitsschädlich ist.

    (Auch wenn selbst teils Ärzte das gerne so sehen, dass das ja nicht schlimm sei und doch besser, als zu wenig essen bzw. wird das sogar als Zeichen einer Gesundung fehlgedeutet, weil der Patient ja wieder isst und ggf. untergewichtig gewesen ist.)

    Es gibt sicher eine Übergangsphase, in der man es nicht sicher sagen kann, ob derjenige gerade in eine Binge-Eating-Erkrankung schlittert oder ob es sich noch um ein vorübergehendes, normales Mehr-Essen nach längerem Hungern handelt.

    In einer Dokumentation wurde mal ein anorektisches, zunächst untergewichtiges Mädchen gezeigt, dass danach offensichtlich während des auch vom Umfeld sowie den Ärzten forcierten Zunehmens und „zum-Essen-Animierens“ in meinen Augen eine Binge-Eating-Störung entwickelt hat. Binnen weniger Monate wurde aus dem Untergewicht objektiv anhand des BMI gemessen, Adipositas; das Mädchen war kaum wiederzuerkennen und das Essverhalten war imho krankhaft, quasi das andere Extrem zu vorher während der Anorexie.

    Ich habe mich seinerzeit sehr erschrocken, als ich das gesehen habe. Auch weil man dem Mädchen eben auch gesagt hatte, dass diese Fressattacken weniger werden würden und normal seien nach dem Hungern. … Joa, darauf hätte sie sich nicht verlassen sollen.

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    1. Klar, es kann passieren, dass man von der einen Essstörung in die andere rutscht. Und das passiert auch oft genug. Aber: eine Essstörung ist ein Stück weit ja nur ein Symptom für andere Probleme, die unter dieser Oberfläche lauern.
      Die Beziehung zum Essen ist nur die halbe Miete und in vielen Fällen schlichtweg deswegen die Priorität, weil der Körper erstmal die Energie braucht, um Wunden heilen zu können.
      Klar, man kann in die nächste Essstörung rutschen, aber dann verschieben sich hauptsächlich die Symptome und die unterliegenden Probleme bleiben gleich.
      Und ewig zu wenig essen ist auch nicht gut 😉
      Einfach nur essen reicht nicht. Man muss auch auf die anderen Gründe der Essstörung schauen.

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      1. Das Problem ist aber auch, dass die Gründe sehr vielfältig und nicht so ohne weiteres zu ändern sind! Bei mir waren es immer Phasen voll mit seelischem Schmerz, denn kriegt man auch nicht einfach so weg 😦 Ich steckte damals auch in Lebenssituationen fest, auf die ich entweder keinen Einfluss hatte oder die ich auch nicht ändern konnte, weil ich z.B. kein Geld hatte, um auszuziehen.

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      2. Da hast du recht… Es ist bei mir ähnlich – die Gründe hinter meiner Essstörung sind so vielseitig, dass, sobald das eine Mal kurz Ruhe gibt und eine andere Kleinigkeit (oder Großigkeit) passiert, direkt super viele andere Baustellen aufreißen und mich immer wieder zurück werfen..
        Aber ich glaube daran, dass es besser wird, solange man sich nicht entmutigen lässt und eben immer und immer wieder hinschaut, was gerade der Auslöser ist und wie man gut für dich mit ihm umgehen kann..

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    2. Danke für deinen Kommentar! Ich habe mir viele Gedanken gemacht und sehe es im Prinzip genau wie „Wieder Leben“! Es geht nicht nur darum das Essen in den Griff zu kriegen, sondern die Essstörung zu heilen – dass man von einer anorektischen Form ins Binge Eating rutscht kann leider passieren. Was ich jedoch auf keinen Fall tun würde, ist aufhören zu essen oder den Drang zu unterdrücken. Untersützung lautet hier das Stichwort. Ich empfehle deshalb immer eine Therapie, in der ganz explizit in das Essverhalten und seine Hintergrunde geschaut wird.

      Liebe Grüße!

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