„Ich musste erst an den Tiefpunkt kommen, um mir helfen zu lassen“ (Gastbeitrag)

 Manchmal müssen wir erst am Boden liegen, um uns klar zu werden, dass es so nicht mehr weitergeht. So ging es auch Lisa, einer Leserin des Blogs, die in einem Gastbeitrag ihre Erfahrung mit euch teilen und euch vor allem Mut machen möchte. Hier ist ihre Geschichte.

Ich war eine sehr zurückhaltende Schülerin. Ich beteiligte mich kaum am Unterricht, weil ich sehr große Angst hatte, etwas falsch zu machen. Ich war dauernd angespannt, weil ich Angst hatte drangenommen zu werden. Ich fühlte mich innerhalb meiner Kurse unwohl, gehörte nie wirklich dazu und wurde kaum wahrgenommen. Ich hatte kein Selbstvertrauen und sagte lieber gar nichts als das Falsche. Ich hatte eine soziale Phobie, ich hatte Angst und noch dazu sehr schlechte mündliche Noten.

Mit Beginn des Studiums wollte ich endlich dazugehören.

Ich wollte gesehen werden und die Anerkennung und Wertschätzung bekommen, nach der ich mich so lange schon gesehnt habe. Ich wollte Respekt für meinen Ehrgeiz und meine Disziplin, für meine Zielstrebigkeit. Anerkennung und Wertschätzung für meine sportlichen Leistungen, mein Allgemeinwissen und meine Leistungen in der Uni. Ich wollte mich endlich wertvoll fühlen.

Ich begann exzessiv Sport zu machen, meine Vorlesungen akribisch vor- und nachzubereiten und täglich mehrere Tageszeitungen zu lesen. Zudem las ich Biografien, wissenschaftliche Zeitschriften und hörte geschichtswissenschaftliche Podcasts. Das restriktive Essen war für mich ein Ausdruck der Disziplin und Kontrolle. Ich wollte nie bewusst abnehmen. Das Abnehmen war für mich jedes Mal ein Erfolgserlebnis, meine Stärke, geschah aber eher unbewusst, sodass ich nicht merkte, dass ich immer mehr Gewicht verlor.

Meine Mama war es, die mich mit der Realität konfrontierte.

Sie machte sich große Sorgen, redete mir immer wieder ein ich solle in eine Klinik gehen und wies mich ständig darauf hin, wie schlecht es mir doch ging. Anfangs habe ich abgeblockt. Ich dachte, ich hätte alles im Griff. Dabei hatte die Magersucht mich im Griff. Langsam gestand ich mir ein, dass ich mich selbst belog und mein ganzes Leben, dass so perfekt schien, brach plötzlich in sich zusammen. Ich fühlte mich als Versager. Ich hatte täglich Ess-Brech-Anfälle, missbrauchte Abführmittel und trank regelmäßig Alkohol. Ich habe mich machtlos gefühlt.

Ich musste erst an den Tiefpunkt kommen, um mir helfen zu lassen.

Der Moment, in dem ich nach dem Erbrechen auf einer Supermarkttoilette zusammengebrochen bin, hat mich wachgerüttelt. Ich konnte so nicht weiter machen, nahm meinen ganzen Mut zusammen und entschied mich eine ambulante Therapie zu machen. Ich hatte sehr große Angst und ich habe mich extrem geschämt, aber dieser Schritt war der Anfang meiner Heilung.

Meine Therapeutin öffnete mir die Augen.

Sie konfrontierte mich damit, dass Magersucht bei jungen Frauen die Krankheit mit der höchsten Sterberate ist. Aufgrund meines niedrigen Gewichts und meinem restriktiven Essverhaltens motivierte sie mich zeitnah in eine Klinik zu gehen. Ich war sehr unsicher, fühlte mich nicht krank genug. Ich hatte Angst, dass sich Freunde von mir abwenden, dass ich als „Vollpsycho“ abgestempelt werde und Angst, dass ich viel zu schnell zunehme. Aber vor allem wollte ich wieder leben, ich vertraute ihr und entschied mich für die Klinik.

„Jede Krankheit verfolgt einen Sinn, jede Krankheit hat eine Funktion.“

Die Zeit in der Klinik war eine der prägendsten in meinem Leben. Ich erinnere mich so gerne an die Zeit zurück und bin unglaublich dankbar. Die Klinik hat mir den geschützten Rahmen gegeben, den ich brauchte, um die Essstörung loszulassen. Meine Essstörung versprach mir Anerkennung, Wertschätzung und gab mich Sicherheit und Kontrolle. In der Klinik hatte ich regelmäßige Mahlzeiten, ich durfte keinen Sport machen, ich habe die Uni pausiert und damit mein Symptomverhalten aufgegeben.

Ich gab mir die Möglichkeit herauszufinden, wer ich ohne die Essstörung bin.

In der Therapie lernte ich, meine Bedürfnisse wahrzunehmen, Verantwortung für mich zu übernehmen, mich selbst wertzuschätzen und entwickelte Vertrauen in mich. Und vor allem lernte ich, dass ich wertgeschätzt werde, ohne etwas zu leisten. Ich bekam sehr viel Besuch von Freund*innen, die sich wirklich dafür interessierten, wie es mir geht. Ich merkte, dass ich anderen Menschen wichtig bin. Nicht weil ich schnell laufe und gute Noten habe, sondern weil ich ihnen fehle, weil sie gerne Zeit mit mir verbringen. Ich lernte mich zu lieben.

Heute möchte ich dir Mut machen und dir von Herzen sagen, dass ein Leben ohne Essstörung so viel lebenswerter und freier ist. Ich bin so dankbar für meine Mutter, die mir damals die Augen geöffnet hat und ohne die ich mich wahrscheinlich in den Tod gehungert hätte. Wenn du diesen Text liest und dich in den essgestörten Gedanken wieder erkennst, dann möchte ich dich ermutigen mit jemandem darüber zu reden. Es ist erstmal egal, ob es deine Mama, deine beste Freundin, ein Arzt oder direkt ein Therapeut ist. Ich wünsche mir von Herzen, dass du auch ein so freies und erfülltes Leben leben kannst, wie ich es jetzt auch kann.

Liebe Grüße
Lisa

Vielen Dank für’s Teilen deiner ehrlichen Erfahrung, Lisa.

Ehrlich gesagt ging es mir (Mounia) genauso. Selbstzerstörerisch wie ich war, brauchte auch ich einen Tiefpunkt, um zu begreifen, dass es so nicht mehr weitergeht. Doch dies war zugleich auch der Moment, an dem ich endlich wieder anfing zu leben. Denn das Leben mit Essstörung ist nur ein halbes Leben.

Ich hoffe, dass es bei euch gar nicht erst zu einem Tiefpunkt kommt. Ihr müsst nicht auf einen bestimmten „Aufwachmoment“ warten; es reicht schon die Erkenntnis, dass ihr was ändern wollt. Und glaubt mir, ihr werdet es nicht bereuen.

Eine Essstörung kann euch gar nicht so viel geben, wie sie euch nimmt.

Falls ihr auch eure Geschichte teilen wollt, schreibt mir einfach unter Kontakt.

Passt auf euch auf.

Hinterlasse einen Kommentar