Warum das „Kotzen“ alles nur schlimmer gemacht hat

Triggerwarnung!

Dieses Thema ist mir sehr unangenehm, aber ich finde es trotzdem wichtig, zu thematisieren. Es soll andere Menschen davor warnen, einen schweren Fehler zu begehen und diejenigen, die mit mir im selben Boot sitzen/saßen, vielleicht vom Gegenteil überzeugen.

Wen dieser Inhalt etwas ekeln könnte, der sei von vornherein gewarnt. Ich versuche zwar keine provokanten Wörter zu benutzen, aber meine Intention wird sicherlich deutlich zu verstehen sein.

Wie ist es dazu gekommen, dass ich in die Bulimie rutschte?

Durch Zufall eigentlich. Eines Tages kam ich aufgelöst und völlig verheult nach Hause und hatte enormen Hunger. Als ich den ersten Bissen aß, beruhigte ich mich allmählich wieder. Nach dem Essen, fing das Heulen erneut an – ich aß daher weiter und zwar so lange, bis mir schlecht wurde. Zu diesem Zeitpunkt war das Bingen längst nicht so schlimm, wie es später werden sollte.
Mein Magen war noch nicht daran gewöhnt, eine große Menge zu verdauen. Mir war so übel, dass ich wieder weinen musste. Kurz darauf meldete sich mein natürlicher Würgreflex, der mich brechen ließ. Danach weinte ich nicht mehr und die Bauchschmerzen waren weg.  So einfach war das. Und am nächsten Tag wog ich keinen Gramm mehr. Es war ein unbeschreibliches Gefühl.

So also begann die Geschichte. Im Folgenden Jahr sollte mir noch öfter schlecht werden und ich sollte mich noch öfter übergeben. Meine Wahrnehmung war so verzerrt, dass ich meine eigenen Ausreden, dass mir „schlecht“ sei, wahrhaftig glaubte.

Ich hatte die perfekte Lösung gefunden. Endlich konnte ich essen was ich wollte und nahm nicht mehr zu.

Das dachte ich zumindest. Selten hatte ich mich so getäuscht, wie in diesem Moment.

Ich dachte daran, dass ich den Schokobrownie ruhig probieren könnte, und wenn wir schon dabei waren, vielleicht noch ein zweites Stück. Hmm, aber warum nicht gleich den ganzen Kuchen? Schließlich schmeckte er doch so gut und wenn kein Platz mehr in meinem Bauch war, dann wusste ich ja, was zu tun war.

 Das Ironische daran war, dass ich ab diesem Zeitpunkt mehr zunahm.

  1. Weil das Bingen und die FA viel stärker wurden als je zuvor. Mit dem Hintergedanken, das Essen bald wieder loszuwerden, aß ich mehr, als ich eigentlich wollte.
  2. Weil das Übergeben niemals den ganzen Inhalt herausbrechen kann. Das meiste, das man wieder los wird, ist Flüssigkeit. Und nur weil ich Flüssigkeit verliere, heißt es nicht, dass das Fett automatisch auch verschwindet. Bei mir blieb alles so, wie es vorher war.
  3. Weil ich am nächsten Tag so energielos war, dass ich viel mehr Essen musste, um die nötigen Vitamine, die am Vorabend wieder ausgespült wurden, zu ersetzen. Es war ein grauenhafter Teufelskreis.

Ich geriet also in eine völlig gefährliche Schleife. Nicht nur, weil meine FA immer größer und heftiger wurden, ich nahm nicht mehr ab, sondern auch noch zu!

Ihr könnt euch kaum vorstellen, wie frustrierend es war. Und das Schlimmste an allem war, dass mein Körper sich veränderte.

Ich wurde „schwabbeliger“ und das ist kein Scherz. Mein Gesicht und mein Schulterblatt zeichneten sich zwar sehr filigran und dünn ab, aber um meinen Bauch und die Beine lagerte sich Wasser ab. Dadurch wirkte ich unförmig und „dicker“.

Und jetzt zu der wichtigsten Frage: Wie viel hat mir das „Kotzen“ gebracht?

Es hat mir rein gar nichts gebracht. Ich musste zwar gefühlt eine Million Mal durch die Hölle gehen, um es irgendwann zu kapieren, aber das Übergeben nach einer Mahlzeit hat mich sowohl äußerlich, als auch innerlich zerstört. Hier ein paar mein Auswirkungen der Bulimie:

-Ich nahm mehr zu, obwohl ich gerade das verhindern wollte (das war für mich auch das Schlimmste von allen Folgen)

-Mein Gefühlsleben war völlig außer Kontrolle! Ich fühlte nichts als Wut, Trauer, Selbsthass und Leere.

-Ich war schwach, ausgelaugt und kippte mehr als ein Mal in der Öffentlichkeit einfach um.

-Ich bekam Karies, weil meine Magensäure den Zahnbelag zerstörte.

-Ich konnte nicht mehr richtig schlucken, weil meine Mundhöhle tagelang wund war.

-Meine Haut wurde unrein und „pickelig“ und selbst die teuerste Creme konnte mein Hautbild nicht verbessern.

-Meine Haare fielen aus und meine Kopfhaut wurde schuppig.

-Ich bekam etliche Unverträglichkeiten, weil mein Darm nicht mehr genügend gesunde Bakterien parat hatte. Seitdem kann ich kaum mehr ein Stück Paprika essen, weil die Zersetzung der Schale zu viel Arbeit für meinen kaputten Magen ist.

Indem ich mir diese Folgen immer wieder vor Augen führte, reduzierte ich das Brechen irgendwann. Ich schrieb alle benannten Auswirkungen in mein Handy und las sie mir jeden Tag durch.
Täglich wurde auf wöchentlich erweitert. Wöchentlich auf zwei wöchentlich. Und mit zwischenzeitlichen Rückschlägen nahm ich mir irgendwann vor, einen ganzen Monat nicht mehr zu brechen. Und dann einen zweiten. Und dann einen dritten. So denke ich weiterhin. Und bis jetzt hat es geklappt.

Hoffentlich auch bei euch! Und für diejenigen, die in einer anfänglichen bulimischen Phase sind: Hört am besten gleich auf. Mit Brechen funktioniert eine Gewichtsreduktion nicht. Jedenfalls nicht bei mir. Es macht nur alles Schlimmer.

Mit diesem Beitrag habe ich meine größte Wunde geöffnet und meine verletzliche Seite offenbart. Die Tatsache, dass es mir leichter fiel als gedacht, empfinde ich als ein gutes Zeichen für meine Heilung. Ich halte jeden Tag meine Fortschritte fest und hoffe, dass ihr es auch versucht. ♥

 

 

 

 

Titelbild gefunden auf http://www.pexels.com

 

 

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12 Kommentare zu „Warum das „Kotzen“ alles nur schlimmer gemacht hat

  1. Diese Unverträglichkeiten kenne ich und jetzt, nach einigen Monaten, kann ich alles wieder essen. Ich hab sogar immer eine Pantoprazol gebraucht – nun nicht mehr. Der Körper regeneriert sich, meine Haut war noch nie so schön, meine Haare wachsen. Aber leider, übersieht man diese negativen Aspekte, weil die Sucht größer und wichtiger erscheint. Vieles habe ich auf etwas anderes geschoben (z.B. Reizdarm) weil ich es nicht wahrhaben wollte, dass ich selbst dafür verantwortlich war. Darf ich fragen seit wann du nicht mehr erbrichst? Schöne Grüße

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    1. Das ist sehr beruhigend! Vielleicht pendelt sich das auch wieder ein. Mit der Haut ist es nach wie vor nicht gut, aber der Haarausfall und die Zahnschmerzen haben sich gelebt.
      Das mit dem letzten Übergeben ist ungefähr 9 oder 10 Monate her. Klar, ist der Kampf nie vorbei, aber ich bin sehr optimistisch und sehe wie gesagt mein Essverhalten rational und nicht mehr so verzerrt 🙂

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  2. Hallo Mia,
    danke für deine Offenheit und deinen Mut, deine Erfahrung mit der Bulimie mit deinen Lesern zu teilen.
    Für mich war das Erbrechen ein Ventil, um all die Wut über mich und mein Leben nach draußen zu lassen. Jahrzehnte erbrach ich mich jeden Tag mindestens einmal (bis 20 Mal) täglich. Geräuschlos und völlig unbemerkt. Die gesellschaftliche Isolation spornte mein Hobby, dass war es wirklich, an. Ich genoss die Attacken, denn ich erlebte es als erfüllenden Rausch. Ich lebte nur für die FA und das Erbrechen.
    Mein Gewicht schwankte leicht. Ich nahm aber nicht extrem zu, was daran lag, dass ich die öffentlich wenig aß und ich mich hautsächlich von den FA ernährte.
    Meine Speiseröhre, Magen und Stoffwechsel haben seitdem einen Treffer. Naja, meine Zähne sind eine reinste Baustelle, die jährlich ein kleines Vermögen für Aufbauzwecke in Anspruch nehmen. Einen Herzschaden habe ich auch davongetragen. Alles in allem hat es mir nur Schaden eingebracht, was mir bis Jan 2013 vollkommen egal war.
    Ich wünsche dir weiterhin viel Kraft, um der ES den Stinkefinger zeigen zu können. Sei stolz auf dich und deine Leistung, das Brechen besiegt zu haben.
    Viele Grüße
    Michaela

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    1. Liebe Michaela,
      Du hast gerade sehr gut ausgeführt, dass die Krankheit bei jedem individuell ist. Ich habe schon öfter gehört, dass das Brechen eine Art Ventil für manche ist, bei mir zog es sich leider eher in Richtung Selbsthass und Bestrafung.
      Das Geräuschlose übergeben kann ich auch sehr gut nachempfinden
      Dass unsere Auswirkungen aber ähnlich ausfielen, ist wohl eine traurige Gemeinsamkeit, für alle, die im selben Boot sitzen.
      Ich hoffe, dass es dir mittlerweile wieder besser geht und dass du keine langfristigen Schäden davon getragen hast!

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      1. Du schreibst etwas ganz Wichtiges – die Krankheit ist so individuell, wie ein Eiskristall. Jedoch bestehen bei jedem Betroffenen gewisse Parallen.
        Mit meinen Auswirkungen muss ich leben. Mich schränkt das nur bedingt ein. Wenn andere gewisse Essensmuster für affig halten, ist es mir mittlerweile egal. Ich habe jahrelang extremen Raubbau mit meinem Körper getrieben und bin heute umso glücklicher, dass ich trotzdem glimpflich davongekommen bin.
        Essstörungen dürfen nicht generalisiert werden. Weder in der Therapie, noch im Umgang mit dieser zerstörerischen Kraft.

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  3. Sehr gut beschrieben, liebe Mia. Als jemand der nunmehr seit über 20 Jahren damit zu tun hat („inaktive“ Zeiten zähle ich mit) kann ich noch zusätzlich von weiteren Spätfolgen berichten.
    Je nach dem wie lang man seinem Körper das Ganze schon angetan hat zeigt dieser einem zu recht den Mittelfinger und stellt den Stoffwechsel erstmal auf Sparflamme. D.h. du nimmst dann auch bei normalen Nahrungsmengen zu. Diesen dann wieder anzukurbeln ist unglaublich schwer. Ich esse zeitweise sogar viel zu wenig unvernünftigerweise, bin aber dennoch übergewichtig.
    Zusätzlich haben meine Zähne nach wie vor mit dem zerstörten Zahnschmelz zu kämpfen.
    Und ich möchte da niemanden demotivieren und in das Gedächtnis rufen das es trotz der Geneinsamkeiten eine sehr individuelle Erkrankung ist. Die Essstörung ist meist nicht mehr als ein Symptom eines tieferliegenden „Problems“, einer tieferliegenden Wunde. Und solang diese Wunde nicht verheilt ist und man noch nicht gelernt hat mit sich und dieser fiesen Stimme im Kopf umzugehen die einem immer komplett fertig macht, solang schlummert auch dieser Kotz-Fress-Notknopf in einem.
    Aktuell mit knapp über 40 bin ich wieder in Therapie aufgrund von rezidivierenden Depressionen und Fress-Kotz-Anfällen. Ich habe mich wieder verloren ohne es zu merken.

    Aber bitte den Kopf oben behalten, deine Story klingt sehr positiv und wie gesagt: es ist trotz der Geneinsamkeiten trotzdem ein Symptom mit unterschiedlichen „Grundvoraussetzungen“

    Alles Liebe, Ciri

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    1. Liebe Ciri, dake für deinen so wichtigen Kommentar! Besonders Stimmen wie deine, die schon seit Jahrzehnten damit zu kämpfen haben, sollten gehört werden. Essstörungen sind leider unglaublich hartnäckig und auch ich merke, wie ich „erst“ nach vier Jahren noch immer stark damit zu kämpfen habe (vor allem im Kopf). Die Auswirkungen von Essstörungen sind mir leider auch bekannt, und diese halten mich tw oft davon ab (zum Beispiel meine Haut, mit der ich auch sonst ein Problem habe und durch die Essstörung meist schlimmer wird).

      Aber ich gebe nicht auf und ich hoffe, dass du da bald wieder rauskommst, indem du auch deine Depression behandelst!

      Ganz liebe Grüße und viel Kraft!

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  4. Hallo, Danke für den Text. Jetzt weiß ich warum ich trotz kotzen immer mehr und schwabelliger werde.
    Du hast mir die Augen geöffnet. Vielen Dank dafür.

    Wie lange hat es gedauert bis das schwabbelige weg ging und der Körper das wieder abgenommen hat?

    Liebe Grüße

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    1. Danke für deine Worte. Mein Körper hat dann aufgehört „unförmig“ zu werden, als auch das K***** aufgehört hat. Das ging natürlich nicht von heute auf morgen, aber sobald der Körper sich wieder daran gewöht hat Nahrung im Körper zu behalten, zu verdauen und vor allem auf das Körpergefühl zu hören.

      Liebe Grüße!

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  5. Mir hat dieser Beitrag und auch die Kommentare sehr geholfen, denn man fühlt sich auch so dermaßen alleine mit der Buli. Zumindest ist das bei mir so. Ich bin jetzt ca 1,5 Jahre in diesem Teufelskreis und will es jetzt endlich raus schaffen. Mein Magen Darm ist nach jeder Attacke hinüber. Schwabbelig wird es auch jedes mal. Man weiß es, aber wenn man in seinem,,Rausch“ ist, vergisst man alles Vernünftige. Das Gehirn ist wie tot. Man denkt einfach überhaupt nicht mehr. Und am Ende bereut man es und fühlt sich furchtbar.

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