Viele Menschen sind sich nicht bewusst, wie ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung) mit Essstörungen zusammenhängen. In diesem Artikel erkläre ich, wie die Symptome von ADHS – darunter Impulsivität und emotionale Probleme – das Risiko für Essstörungen erhöhen können und welchen Einfluss sie auf das Essverhalten haben.
Eine Sache, über die ich in diesem Blog noch nie gesprochen habe, ist mein ADHS. Ich habe die Diagnose – wie viele Frauen – erst in meinen späten Zwanzigern bekommen. Bei Frauen äußern sich die Symptome durch ihre Sozialisation häufig anders als bei Männern. Außerdem ist es ja ein offenes Geheimnis, dass sich die Medizin meist nur den Mann als Norm nimmt und die Frau ausklammert…:D
Kurz zu den Begrifflichkeiten:
Was sind ADHS und ADS?
ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung) und ADS (Aufmerksamkeitsdefizitstörung) sind weit verbreitete neurobiologische Störungen, die sich durch Symptome wie Konzentrationsschwierigkeiten, Vergesslichkeit und Impulsivität äußern. Während ADHS zusätzlich durch Hyperaktivität und innere Unruhe gekennzeichnet sein kann, zeigen Menschen mit ADS oft weniger sichtbare Hyperaktivität, sind jedoch ebenfalls von Aufmerksamkeitsproblemen betroffen. Beide Formen sind häufig mit einem Mangel an Dopamin im Gehirn verbunden, einem Neurotransmitter, der für Belohnung, Motivation und Konzentration wichtig ist. Dieser Dopaminmangel kann die Fähigkeit beeinträchtigen, sich zu fokussieren und selbstreguliertes Verhalten zu kontrollieren.
Kleine Nebennotiz am Rande: Ich bin gesagt kein großer Fan von den Begriffen „Aufmerksamkeitsdefizit“ und „Störung.“ Für mich sind sie veraltet und sehr negativ konnotiert. Deshalb mag ich es viel lieber, zwischen neurotypisch und neurodivers zu unterscheiden. 🙂
Kleiner zusätzlicher Hinweis: Viele Menschen glauben, dass Menschen mit ADHS hyperaktiv sein MÜSSEN. Das stimmt nicht. Die innere Unruhe und permanente Rastlosigkeit zählen auch dazu, aber dafür muss man nicht hibbelig und/oder hyperaktiv sein. Ich dachte zum Beispiel, das ich „nur“ ADS hätte, weil ich vom Wesen sehr ruhig und still bin, und überhaupt nicht hyperaktiv. Aber meine Therapeutin hat mich nach unseren Gesprächen trotzdem mehr ins ADHS-Spektrum verordnet.
Essen aus Langeweile
Wusstet ihr, dass meine Essstörung erst dann so richtig ausbrach, als ich Semesterferien hatte? Ich hatte gerade einen Marathon an Prüfungen hinter mir, und freute mich auf etwas Freizeit. Aber die langen, ereignislosen Tage wurden mir schnell öde. Während ich in der Uni einen geregelten Ablauf hatte, und jede Minute durchgetaktet war, fehlte mir nun eine Routine. Womit ich immer zu kämpfen hatte, war meine innere Unruhe. Ich komme schwer mit dem „Nichts tun“ klar, und so war es in den Semesterferien.
Also aß ich. Ich aß und aß und aß. Und ich konnte nicht mehr aufhören. Warum? Weil mir das Essen kurzzeitig die mentale Unruhe nahm, mir einen Grund gab, etwas zu tun, und natürlich auch ein paar Glücksgefühle bescherte. (Dopaminkick)
AD(H)S und Essen vergessen
Es kann aber auch andersherum sein. Menschen mit AD(H)S leben oft in Extremen. Manchmal können sie sich gar nicht aufraffen, aber dann wiederum sind so so hyperfixiert auf etwas, dass sie alles andere um sich herum ausblenden. Auch körperliche Erlebnisse. Auch Essen. Ich hatte schon Tage, an denen ich morgens aufgestanden bin, stundenlang in die Tasten gehauen habe, und irgendwann bemerkte, dass es schon abends ist, ohne, dass mir mein Körper irgendein Signal gesendet hat, mal etwas zu essen.
Die Verbindung zwischen AD(H)S und Essverhalten
Menschen mit AD(H)S können aus verschiedenen Gründen anfälliger für Überessen oder Essstörungen sein. Hier nochmal knapp zusammengefasst:
Impulsivität und Selbstkontrolle: Ein zentrales Merkmal von AD(H)S ist die Schwierigkeiten mit der Impulsregulation. Diese Impulsivität kann sich in Essgewohnheiten widerspiegeln, bei denen Entscheidungen über Nahrungsaufnahme spontan getroffen werden, oft ohne Berücksichtigung der langfristigen Konsequenzen. Das kann zu übermäßigem Essen führen, insbesondere bei emotionalen oder stressigen Situationen.
Emotionale Regulation: AD(H)S kann mit Schwierigkeiten in der emotionalen Regulation einhergehen. Manche Menschen neigen dazu, emotionales Essen als Bewältigungsmechanismus zu verwenden. Das heißt, sie essen nicht nur aus Hunger, sondern auch, um mit negativen Gefühlen oder Stress umzugehen.
Fehlende Aufmerksamkeit beim Essen: Menschen mit AD(H)S haben oft Schwierigkeiten, sich auf eine Aufgabe zu konzentrieren. Dies kann auch das Essen betreffen, bei dem es an Achtsamkeit fehlt. Ein mangelndes Bewusstsein für das, was und wie viel gegessen wird, kann zu unkontrolliertem Überessen führen.
Belohnungssysteme im Gehirn: AD(H)S ist mit einer Dysregulation der Belohnungssysteme im Gehirn verbunden. Das bedeutet, dass Menschen mit AD(H)S oft intensiver nach Belohnungen suchen und Schwierigkeiten haben, kurzfristige Belohnungen gegen langfristige Ziele abzuwägen. Nahrung kann eine sofortige Belohnung bieten, die schwer zu widerstehen ist.
Essstörungen bei AD(H)S
AD(H)S kann mit verschiedenen Essstörungen in Verbindung gebracht werden, darunter Binge Eating, Bulimie und Anorexia Nervosa. Die Impulsivität und emotionale Dysregulation, die mit AD(H)S einhergehen, können die Essgewohnheiten beeinflussen, indem sie unkontrollierte Essanfälle, übermäßige Diäten oder zwanghaftes Verhalten begünstigen.
Gleichzeitig kann das Streben nach Selbstkontrolle oder der Versuch, Emotionen durch Essverhalten zu regulieren, zu ungesunden Mustern führen. Dadurch sind Menschen mit AD(H)S anfälliger für die Entwicklung von Essstörungen, was oft eine ganzheitliche Behandlung erfordert, die sowohl die AD(H)S -Symptome als auch das gestörte Essverhalten adressiert.
AD(H)S und Substanzmissbrauch
Jetzt kommen wir ein bisschen vom Thema ab, aber da ich Essstörung streng genommen auch als Sucht zähle, wollte ich unbedingt noch erwähnen, dass Menschen mit AD(H)S häufiger zu Substanzen und Rauschmitteln greifen, da sie oft nach Möglichkeiten suchen, ihre Symptome wie Unruhe, Impulsivität oder emotionale Dysregulation zu lindern. Substanzen wie Alkohol, Nikotin oder Drogen können ihnen kurzfristig das Gefühl vermitteln, sich zu beruhigen oder zu fokussieren. Leider erhöht dies das Risiko für Abhängigkeiten, da diese kurzfristige Linderung langfristig problematische Auswirkungen auf Gesundheit und Wohlbefinden haben kann.
Unterstützung und Behandlung
Falls ihr glaubt, dass ihr AD(H)S haben könntet, würde ich euch raten, euch auf jeden Fall testen zu lassen. Selbst wenn ihr in Therapie seid, kann es sein, dass es nicht auffallen wird. Ich war bei zwei Therapeutinnen, und beide hatten nie auch nur im Entferntesten daran gedacht, weil ich während der Sitzungen überhaupt keine Symptome zeigte. (Und wenn, dann gut verbergen konnte.)
Mir hat die Diagnose in vielerlei Hinsicht enormen Frieden verschafft, weil ich endlich wusste, warum ich so „anders“ war. Einer meiner größten Glaubenssätze war „Ich bin dumm“, weil ich mich in der Schule so schwer konzentrieren konnte und in vielen Fächern sehr schlechte Noten hatte. (Und weil mein Mathelehrer mich vor der ganzen Klasse anschrie, ob ich dumm sei. Hach ja, die Schulzeit …) Alles hat sich für mich doppelt so schwer angefühlt. Was andere auf Anhieb verstanden, musste ich zehn Mal durchlesen, weil ich plötzlich wieder abschweifte. Aber durch die Diagnose erkannte ich, dass mein neurodiverses Gehirn ganz anders funktioniert als ein neurotypisches. Das war eine enorme Erleichterung für mich.
Ich habe die Diagnose bekommen, als ich die Essstörung hinter mir hatte und generell mental sehr stabil war. Aber mir wurde trotzdem empfohlen, bei Bedarf einen ganzheitlichen Ansatz zu verfolgen. Dazu gehört eine Kombination aus Verhaltenstherapie und/oder Beratung zur emotionalen Regulation und Medikation, um sowohl die AD(H)S-Symptome als auch die Essstörungen zu behandeln.
Soweit das Thema in aller Kürze! Falls ihr irgendwelche Fragen zu dem Thema habt, dann schreibt mir gern! ❤
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Liebe Mia,
danke für den sehr interessanten und hilfreichen Beitrag!
Tatsächlich verbindet man ADHS gesellschaftlich ja oft noch mit dem Bild hyperaktiver kleiner Jungs, um es zugespitzt zu formulieren. Dass auch Erwachsene davon betroffen sein können und dass sich Symptome im Erwachsenenalter und auch bei Frauen teilweise ganz anders äußern, ist vielen noch unbekannt. Deshalb finde ich es super, dass jetzt in den sozialen Medien und Co. vermehrt mit den Klischees aufgeräumt wird und mehr Menschen dadurch hoffentlich Unterstützung bekommen.
Eines meiner Geschwister wurde auch erst relativ spät mit AD(H)S diagnostiziert, dadurch habe ich ein wenig mitbekommen, was es für Betroffene bedeutet, wenn sie endlich eine Erklärung bekommen für Probleme und Besonderheiten, die sie ihr Leben lang begleitet und vielleicht stark verunsichert und ihren Selbstwert angegriffen haben.
Tatsächlich habe ich in letzter Zeit viel über AD(H)S bei Frauen gelesen und konnte mich in einigem wiederfinden. Da es wohl auch eine genetische Komponente geben soll, würde ich gerne eine Diagnostik anstreben. Leider ist es echt schwer, jemanden zu finden, der Ahnung und gleichzeitig einen freien Platz hat …
Liebe Grüße
Nelia
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Liebe Nelia, danke für deinen Kommentar! Bei mir hat es auch eine Weile gedauert, bis ich einen Termin bekam, aber es hat sich wirklich gelohnt! Bei uns liegt ADHS, wie wir herausfinden, auch in der Familie (Was sehr vieles erklärt, haha). Und ja, ichgebe dir recht, dass die meisten bei ADHS an kleine hibbelige Jungs denken, und es im Erwachsenenalter dann automatisch weggeht. Was natürlich nicht stimmt!
Liebe Grüße
Mounia
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Liebe Mounia,
danke für deine Antwort. Dein Beitrag hat mir Mut gemacht, dass Thema endlich bei meiner Therapeutin anzusprechen (ich habe mich das tatsächlich länger nicht getraut aus Angst, dass sie sagen könnte „So ein Quatsch, Sie doch nicht“ oder „Wollen Sie unbedingt noch eine Diagnose?“. Zum Glück hat sie aber ganz anders und empathisch reagiert. Wir wollen jetzt demnächst eine Diagnostik angehen und sie will sich vorher etwas schlau machen noch mal, weil sie meinte, dass AD(H)S jetzt nicht ihr Schwerpunkt sei. Sie habe in letzter Zeit mehrere junge Frauen als Klientinnen, die zunächst nur auf Depressionen behandelt wurden, weil sie nicht dem Klischee entsprachen und bei denen es sich später erst herausstellte, dass dahinter noch ADHS verborgen war.
Also nochmals vielen Dank für’s Mut machen ☺️
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Oh wie toll!! Das freut mich total für dich!! Ich wünsche dir ganz tolle, und hoffentlich aufklärende Therapiestunden! ❤
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